Ehrliche Politik?
Wahlnachlese: Piratenpartei
Als ich vorvergangenen Sonntag im Wahllokal bei der Stimmabgabe war, spielte ich mit dem Gedanken, mein Kreuz bei der Piratenpartei zu machen. Die Idee war in den Tagen und Wochen davor gereift. Die Piraten hatten gegenüber den anderen Parteien, die im Abgeordnetenhaus von Berlin vertreten sind, einen gewichtigen Vorteil: Sie versprachen nichts, gaben es offen zu, wenn sie zu einem politischen Thema nichts wussten, wirkten unverbraucht, unverstellt, ehrlich. »Ihr habt die Antworten, wir haben die Fragen«, hieß es auf einem der Wahlplakate. Waren die Grünen vor 30 Jahren nicht ähnlich unverstellt und unverbraucht in die Parlamente gestolpert? Die Piraten zu wählen, das könnte auch für mich ein politischer Jungbrunnen sein. Es müssen viele in meinem Wahlbezirk in Berlin-Lichtenberg so gedacht haben: Die Piraten landeten hinter den Grünen und knapp hinter der SPD auf den dritten Platz, noch vor der Linkspartei.
Ich schreibe über meine Wahlabsichten in der Vergangenheitsform, denn ich habe mich dann doch nicht getraut, die Piraten zu wählen. Im Rückblick war das die richtige Entscheidung. In den meisten Medien überschlagen sich die Kommentatoren zwar derzeit mit Lobeshymnen auf die internetaffinen Jung-Politiker, doch dieses Lob ist ein vergiftetes. Ihren Vorgängern von den Grünen schlug vor 30 Jahren noch Häme, Spott und unverhohlene Abneigung entgegen, heute sagt das Polit-Establishment in Person des konservativen CDU-Politikers Peter Altmaier: »Ich habe kein Problem zuzugeben: Ihr habt als Erste verstanden, dass das Internet eine richtige Revolution ist.« Bärbel Höhn von den Grünen muss sich dagegen in der »Bild«-Zeitung den Spott gefallen lassen, die neue Zeit verschlafen zu haben. »Bild« schreibt über Höhns Auftritt in der Talk-Runde »Anne Will« (ARD): »In der Diskussion um den Überraschungserfolg der Piratenpartei bei der Berlin-Wahl (sensationelle 8,9 Prozent) beginnt Höhn einen Satz mit den Worten: ›Ich gucke jetzt mal Internet …‹ Pirat Christopher Lauer (27) lacht auf, unterbricht die Grüne: ›Sie gucken Internet, Sie benutzen es nicht. Das ist genau der Punkt!‹ Lautes Lachen, Applaus im Publikum.«
Die Jungaktivisten in der Piratenpartei wird das freuen, doch sie sollten bedenken: Das Establishment hat gelernt, seine Gegner durch Umarmung zu erdrücken. Gelernt haben sie an den Grünen. Deren Ankunft in den Institutionen war der formale Abschluss der 68er-Revolte. Ihr Einzug in den Bundestag auf Birkenstock-Schuhen, mit dem Sonnenblumen-Topf in der einen, dem Strickzeug in der anderen Hand, in wallenden Gewändern, Latzhosen und mit langen Bärten – das war die Vollendung der antibürgerlichen Rebellion. Die aus der Art geschlagenen Kinder des Bürgertums machten sich mit provokanten Aktionen im Hause ihrer Altvorderen breit. Eine bunte Truppe, die zunächst gar nicht ernst genommen werden wollte – und ihrerseits den Parlamentarismus nicht ernst nahm. Alles, was an Protestformen danach kam, musste zwangsläufig wie ein lauer Aufguss wirken. Als »Gysis bunte Truppe« in den 1990ern den Bundestag enterte, flackerte die antibürgerliche Rebellion des Bürgerlichen nochmal kurz auf; sie hält sich heute mit plakativen Protestaktionen, Parolen auf T-Shirts nur mühsam knapp über der Lächerlichkeitsgrenze. Frei nach Marx ereignet sich alles zweimal – das erste Mal als Agitprop, das zweite Mal als Polit-Komödie.
Das Problem ist nur: Innerhalb des parlamentarischen System gibt es nur die Anpassung, eine Wahlfreiheit, mitzumachen und trotzdem seine außerparlamentarische Unschuld zu bewahren, existiert nicht. Wer in der Mühle von Parteien und Abgeordnetenhäusern ist, muss mittreten. Eine Mühle ist ein austariertes System von Rädern, Rädchen, die unweigerlich ineinandergreifen müssen, um das Getriebe am Laufen zu halten. Der Mittelweg, wie ihn die Grünen früher mit der Theorie von den zwei Standbeinen (eines in den außerparlamentarischen Bewegungen, das andere in den Parlamenten) propagierten, ist ausgeschlossen. Schon ist abzusehen, dass die Piraten bald daran zerrieben werden. Sollen Fraktionssitzungen öffentlich sein oder nicht? Der erste Streit in der jungen Fraktion entzündete sich daran, wer künftig der Fraktionsvorsitzende, der primus inter pares, sein darf. Wieviel verlorene Unschuld möchte man auf sich laden?
Die 13-jährige Tochter unserer Nachbarn, mit denen wir gemeinsam die Wahlberichterstattung im Fernsehen verfolgten, nahm von den Auftritten der Politiker im TV kaum Notiz. Nur als Andreas Baum, Spitzenkandidat der Berliner Piraten, vors Mikrofon trat, blickte sie kurz auf. »Der ist ehrlich, der ist der einzige, der normal angezogen ist«, entfuhr es ihr und sie rückte dabei ihre knallbunte Wollmütze zurecht, die sie seit Wochen auf dem Kopf trägt und nur zum Schlafen abnimmt. Beim Talk bei Anne Will trug der Vertreter der Piraten bereits einen Anzug.
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