Sächsische Sammelwut

Auch der Verfassungsschutz pfeift auf Datenschutz

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Der 55-jährige Bergsteiger Lothar B., der jüngst in den Oberstdorfer Bergen abgestürzt ist, wurde erst nach fünf Tagen durch Zufall entdeckt. Hätte er sein Handy eingeschaltet gelassen, so wird von interessierter Seite betont, hätte man ihn viel früher gefunden. Ein Hoch dem IMSI-Catcher. Oder doch nicht? Das Beispiel Sachsen.
Sächsische Sammelwut

Es gibt elektronische Wunderdinger, die liefern Informationen über jeden an jedem Ort. Selbst dann, wenn das Handy keinen Empfang hat. Vorfälle im Freistaat Sachsen belegen jedoch bei Sicherheitsbehörden höchst willkommene »Nebenwirkungen«.

Zu Jahresbeginn versuchten Demokraten in Dresden einen Aufmarsch von Neonazis durch friedliche Blockaden zu verhindern - und weckten damit Behördenneugier. Die Polizei initiierte eine sogenannte nichtindividualisierte Funkzellenabfrage. Insgesamt neun Stunden lang wurden an 14 Örtlichkeiten Daten von Handybenutzern »abgegriffen«, insgesamt 138 630 Verkehrsdaten (Seriennummern der Mobiltelefone und die dazugehörigen Telefonnummern, Standortdaten, Telefonnummern eingehender und abgehender Anrufe und Kurznachrichten sowie Datum und Uhrzeit der Kommunikation). Diese Verkehrsdatensätze enthielten 65 645 Anschlussnummern, von Demonstranten, Passanten Anwohnern, aus denen 460 Personen herausgefiltert wurden.

Die Daten wurden rechtswidrig auch für Ermittlungsverfahren wegen Störung einer Versammlung nach Paragraf 21 Versammlungsgesetz herangezogen. Der für diese nachträgliche Maßnahme erforderliche richterliche Beschluss war durch die Staatsanwaltschaft vorformuliert und wurde ohne Änderung vom Gericht abgezeichnet.

Später erhielt die SoKo noch 896 072 Datensätze vom Landeskriminalamt (LKA), darunter 257 858 Telefonnummern, die neben Verkehrsdaten auch 40 732 Bestandsdaten (Name, Vorname, Geburtsdatum und Wohnanschrift) enthielten. Die LKA-Schnüffelorgie dauerte mehrere Tage und machte auch vor den Handys von Abgeordneten, Pfarrern und Journalisten nicht halt.

Das allein ist ein Skandal. Der sächsische Datenschutzbeauftragte ist sich sicher, dass sowohl die SoKo 19/2 wie das LKA weit über das Ziel hinausschossen. »Da bei nichtindividualisierter Funkzellenabfragen in Grundrechte aller sich in der Funkzelle aufhaltenden und erfassten Personen eingegriffen wird, kommt der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck anerkanntermaßen ein besonders hohes Gewicht zu.« Nur eine »schwere Straftat« rechtfertigt »im Einzelfall« und nur wenn Ermittlungen anders aussichtslos sind, einen solchen Eingriff. Der Datenschutzbeauftragte fährt mit der Verfassung ein schweres Geschütz auf: Fernmeldegeheimnis, Versammlungs-, Vereins- und Koalitionsfreiheit, Religions- sowie Pressefreiheit ... Das Innenministerium in Dresden lässt sich von solchen »Lappalien« nicht beeindrucken. Und was macht der Bund?

Der Bund verweist darauf, dass er keine eigenen Informationen besitzt, also auch nur Zeitung lese und im übrigen der »Fall Dresden« Landesangelegenheit sei. Keine Reaktion darauf, dass die Konferenz aller Datenschutzbeauftragten der Länder und des Bundes bereits im Juli in einer Entschließung eine Gesetzesänderung, zumindest aber eine Präzisierung der einschlägigen juristischen Grundlagen gefordert hat. Warum nur ziert sich die Bundesregierung so sehr? Nur um der CDU/FDP-Koalition im Freistaat nicht zu nahe zu treten?

Als die Datenschützer ihre Formulierungen erhoben, war nicht einmal ihnen klar, dass man sich bei der Demokratenabwehr in Sachsen nicht »nur« der Funkzellenabfrage bediente. Man nutzte auch diese angeblich so lebensrettenden IMSI-Catcher.

Bislang hatte die Staatsanwaltschaft Dresden behauptet, dass die Catcher nur im Falle zweier konkreter Telefonnummern eingesetzt und dabei keinerlei Gespräche mitgehört worden seien. Wie aber kommt es dann, dass auch das Bundesamt für Verfassungsschutz über Datensätze aus dem umstrittenen Einsatz der Überwachungstechnik verfügt? Sogar ein Durchsuchungsbeschluss aufgrund von Ermittlungen nach Paragraf 129 StGB (»Bildung einer kriminellen Vereinigung«) ist wohl nachweisbar.

Peter Schaar, der oberste Datenschützer im Bund, nähert sich dem Verhältnis Verfassungsschutz und IMSI-Catcher von einer anderen Seite. Er bezichtigt das Bundesamt für Verfassungsschutz im Zusammenhang mit dem Erfassen von Mobilfunkteilnehmern und der Verarbeitung der dabei anfallenden IMSI-Nummern eines, wie er in einem VS-Dokument schreibt, »gravierenden Rechtverstoßes«. Der ob seiner »weit reichenden Konsequenz für den gesamten Bereich der öffentlichen und privaten Datenverarbeitung von grundsätzlicher Bedeutung ist«. Hintergrund: Obwohl bereits mehrmals aufgefordert, will der Inlandsgeheimdienst den Paragrafen 14 des Bundesverfassungsschutzgesetzes nicht umsetzen. Eigentlich müsste die per IMSI-Catcher gewonnen Daten - wie andere Personendaten - besonders geschützt werden. Da eine IMSI-Nummer weltweit pro Kunde nur ein Mal vergeben wird, lässt sich durch simple Anfrage nach Paragraf 113 Telekommunikationsgesetz die vom IMSI-Angriff betroffene Personen eindeutig identifizieren.

Das Bundesinnenministerium als vorgesetzte Behörde des Bundesamtes für Verfassungsschutz stellt sich übrigens uneingeschränkt auf die Seite der von Schaar geouteten beamteten Gesetzesbrecher.

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