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Neugierige Ahnen

DIE ARGONAUTEN

  • Armin Jähne
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer in Deutschland – um einen niederländischen Kollegen zu zitieren – von den streitsüchtigen »akademischen Kindern« verlacht und an den Pranger gestellt wird, hat es nicht leicht, wissenschaftlich wahrgenommen und anerkannt zu werden. Es genügt schon, vom sogenannten Mainstream »gefestigten« Wissen mit einer eigenen Meinung abzuweichen und auf ihr zu beharren, um der Verdammnis anheim zu fallen. So ist es auch mit Hans Peter Dürr geschehen, der eigene Denkmuster entwickelte und sich brisanten Themen zuwandte, die er dann noch als Einzelner interdisziplinär abhandelte. Folglich stieß er in Wissenschaftsbereiche vor, für die er angeblich keine Legitimation besaß.

Die Sache begann recht harmlos. Auf der Suche nach der in der Nordsee versunkenen mittelalterlichen Stadt Rungholt und einem bereits entdeckten, aber nicht geborgenen Kalksteinanker machten der Ethnologe Dürr und seine Studenten im Juni 1994 einen Zufallsfund. Im nordfriesischen Watt stießen sie unterhalb einer bronzezeitlichen Moorschicht auf bemalte Tonscherben, Weihrauch- und dunkelrote Harzbrocken, eine Schnecke südlicher Herkunft, auf ein Stück Lapislazuli und ein Serpentinsiegel.

Diese für den europäischen Norden fremdartigen Objekte stammten, wie naturwissenschaftliche Untersuchungen, Altersbestimmung und Vergleiche ergaben, aus dem bronzezeitlichen Ägäisraum und mussten auf dem Seewege von Kreta aus in die Küstengewässer vor Schleswig-Holstein gelangt sein. Aber: Kretisch-minoische Schiffe im 13./12. Jahrhundert v. u. Z. (etwa gleichzeitig zum Trojanischen Krieg) in der Nordsee – das konnte nicht sein, und was nicht sein konnte, durfte es auch nicht. Der Knoten wissenschaftlicher Auseinandersetzung und subjektiver Vorbehalte, Verleumdungen eingeschlossen, war geschürzt.

Nun hat Dürr ein Buch veröffentlicht, das eine Art von Abschlussbericht darstellt und wahrscheinlich neue Diskussionen auslösen wird. Seine These, dass vor mehr als 3000 Jahren wagemutige ägäische Seefahrer, Prospektoren, offenbar nach alternativen Bezugsmöglichkeiten von Bernstein und Zinn Ausschau hielten oder Forschungsfahrten unternahmen, um Handelswege zu erschließen, und warum sie das Risiko solcher Reisen auf sich nahmen, wird in der ersten Hälfte des Buches allseitig und sorgfältig begründet.

Dabei zeichnet Dürr ein geradezu panoramaartiges Bild bronzezeitlichen direkten oder vermittelten Fernhandels im vorderasiatisch-mittelmeerischen Raum mit Hochzeiten und Krisen. Es erstaunt, welche Fülle an Fakten er zusammengetragen hat, die erst in dieser Gesamtschau und wechselseitigen Ergänzung das großmaschige, Jahrtausende währende politische wie kommerzielle Beziehungsgeflecht insbesondere zwischen Ägypten, der Levante, Kleinasien, den Inseln und dem griechischen Festland verständlich werden lassen.

Die zweite Hälfte des Buches bleibt jenem Mythos vorbehalten, der im Buchtitel aufscheint – der Argonautensage. Sie und Homers »Odyssee« sind für Dürr die durchaus vorstellbare Reminiszenz der über die Grenzen der damals bekannten Welt ins Ungewisse hinausführenden Seefahrten, wobei diese Seefahrergeschichten oder besser -mythen in eine enge Beziehung zu damals vorhandenen Jenseitsvorstellungen, zu Fruchtbarkeitskulten und natürlichen, ins Mythische übertragenen Abläufen wie dem Auf und Ab der Sonne gesetzt werden. Wieder wird, wenn er über die Transformation der Großen Muttergöttin und ihre Aufspaltungen in regionale Gottheiten, den Raub der Fruchtbarkeitsgöttin, die Heilige Hochzeit, Jason und Medea, das Goldene Vlies oder die Widdergötter schreibt, ein umfassendes historisches, archäologisches und ethnologisches Vergleichsmaterial herangezogen, das Japan, die Südsee, Afrika ebenso einbezieht wie den Balkan oder Island etc.

Nicht mit allem, was Dürr untersucht hat und als Ergebnisse seiner gründlichen Forschungen präsentiert, muss man einverstanden sein. Einiges wäre auch zu ergänzen (z. B. die Kupferminen von Ai Bunar in Bulgarien). Außerdem ist nicht zu vergessen, dass künftige archäologische Ausgrabungen und Zufallsfunde noch manche Überraschungen bereit halten, die scheinbar gesichertes Wissen in Frage stellen werden. Warum können Menschen, Völker und Staaten in grauer Vorzeit nicht viel enger vernetzt gewesen sein, als wir es uns heute vorzustellen vermögen? Ein Blick auf Europas Karte genügt, um allein zu erahnen, welche Möglichkeiten Flüsse zu Wanderungen und zur Kontaktaufnahme boten. Hinzu kommt, dass viele unserer Vorfahren ohne Zweifel nicht weniger neugierig und unternehmenslustig waren als wir heute.

Dürr hat ein großartiges, faszinierendes, wenngleich ausgesprochen wissenschaftliches Werk vorgelegt, aber der interessierte Leser (und es sind ihm viele zu wünschen) sollte sich davon nicht abschrecken lassen. Das Buch ist leicht lesbar und enthält einen solchen Reichtum an den geistigen Horizont erweiternden Informationen und Aha-Erlebnissen, dass die Lektüre zum Vergnügen wird.

Hans Peter Dürr: Die Fahrt der Argonauten. Insel Verlag. 1111 S., geb., 308 Abb., 25 Farbtafeln, 34,90 €

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