Fluchtversuch im Morgengrauen
Erinnerung an einen Grenzübertritt, der friedlich ablief und dennoch tragisch endete
Es war ein Novembermorgen im Jahre 1984, als Uwe Schwarz wieder einmal seinen Posten bezogen hatte. Der 20-Jährige diente im Grenzregiment Babelsberg, seine Einheit hatte einen Grenzabschnitt bei Potsdam zu sichern. Mittendrin Klein-Glienicke, eine Art DDR-Enklave, mit dem DDR-Hinterland nur durch eine schmale Brücke über den Griebnitzsee verbunden.
Hier stand Schwarz in aller Frühe einem Fremden gegenüber, der den Grenzzaun überwunden hatte - von West nach Ost. Der Unteroffizier dachte, es handele sich um eine Provokation, konnte aber keine westliche Fernsehkamera entdecken. Schwarz wollte wissen, woher der Mann Mitte 30 kam. Sie radebrechten auf Englisch; der Mann stammte aus Iran, bezeichnete sich als Kommunist und versicherte sich, den Boden eines kommunistischen Staates betreten zu haben, um Asyl zu suchen. In der Bundesrepublik drohe ihm die Abschiebung in die Heimat, nach Iran - »a fascist country«. Schwarz beglückwünschte ihn zu seinem Entschluss; dann nahmen seine Vorgesetzten den ungewöhnlichen Flüchtling in Empfang. Den Fremden, mit dem Schwarz - gemessen an den Vorschriften - wohl schon zu viel gesprochen hatte, sah er nie wieder.
Der Fall ließ ihn allerdings nicht los. Nicht, weil Schwarz für seine Wachsamkeit einen Tag Sonderurlaub, eine Prämie und eine Auszeichnung erhielt. Eher schon, weil kurze Zeit später ein Offizier den Soldaten im Politunterricht - mit Bezug auf den Iraner - etwas über arbeitsscheue Elemente »von drüben« erzählte, die glaubten, sie könnten sich »hier« ein schönes Leben machen. Noch am Tage seines Grenzübertritts, erfuhr Schwarz, war der Iraner zurück in die Bundesrepublik geschickt worden.
Eine Möglichkeit, eine Bitte oder gar einen Anspruch auf Asyl geltend zu machen, hatte der Mann nicht. Es gab in der DDR kein entsprechendes Asylrecht. Der Staat konnte Menschen »Asyl gewähren, wenn sie wegen politischer, wissenschaftlicher oder kultureller Tätigkeit zur Verteidigung des Friedens, der Demokratie, der Interessen des werktätigen Volkes oder wegen ihrer Teilnahme am sozialen und nationalen Befreiungskampf verfolgt werden« - so stand es in der Verfassung. Politisch Verfolgte aus Griechenland, Spanien, Chile und anderen Militär- und faschistischen Diktaturen wurden aufgenommen. Auch Aktivisten aus Befreiungsbewegungen erhielten Asyl und Ausbildung.
Bei jeder Nachricht über das Ayatollah-Regime, sagt Schwarz, habe er sich gefragt, was aus dem Flüchtling geworden sein mochte. Erst viel später erfuhr er es. Das Thema Grenze hatte ihn nicht losgelassen; die Debatte über Schießbefehl, Mauerschützen und Grenzopfer beschäftigte ihn weiter. Anfang der 90er Jahre schrieb er einen langen Text darüber - es geht um die Mauerdebatte »zwischen kaltherziger Härte und Gedankenlosigkeit«, um Grenzgesetz und Schusswaffengebrauchsbestimmung, um seine praktischen Erfahrungen, die Atmosphäre des Kalten Krieges und die Angst, manchmal auch Brutalität von Grenzern.
In diesem Text erwähnt er seine Begegnung mit dem Iraner. Einige Jahre später stellte er den Artikel ins Internet. Ein Online-Leser, der in der Flüchtlingsarbeit aktiv gewesen war, konnte Auskunft über das Schicksal des Iraners geben: Der Mann war Mitglied der kommunistischen, in Iran verbotenen und verfolgten Tudeh-Partei. In der Bundesrepublik erhielt er kein Asyl; seine Aufenthaltsduldung wurde irgendwann nicht mehr verlängert, er suchte sein Heil in der Flucht nach Osten. Zurück im Westen, nahm er sich in seiner Verzweiflung das Leben.
Uwe Schwarz, der später Physik studierte und heute Patentschriften übersetzt, hatte das Glück, die Waffe nicht auf Menschen richten zu müssen. Er hätte notfalls geschossen, wie befohlen, sagt er. Beim einzigen Grenzübertritt seiner Dienstzeit blieb alles friedlich. Er endete dennoch tragisch.
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