Den Hintergrund sollte man schon kennen
Muslimische und jüdische Jugendliche in Berlin über Weihnachten
Als ich Ali Bulat, den Leiter einer türkischen Nachhilfeschule im Berliner Ortsteil Kreuzberg, vorsichtig frage, ob er Muslime kenne, die Weihnachten feiern oder, ich relativiere das lieber noch etwas, die einen Weihnachtsbaum aufstellen, freut er sich: »Ja, wir. Wir haben einen Weihnachtsbaum!« Und tatsächlich, beim Öffnen der Tür zur Bulat-Nachhilfe fällt der Besucher beinahe in einen hohen, rot-gold geschmückten Weihnachtsbaum. Der ganze Empfangsbereich ist festlich dekoriert. Ich bin ein bisschen überrascht, denn eigentlich kenne ich Ali Bulat als einen Schulleiter, der die Meinung vertritt, dass politische und religiöse Statussymbole im Klassenzimmer nichts zu suchen haben.
Eine Tanne in der türkischen Schule
Doch so einfach war die Sache mit dem Weihnachtsbaum auch nicht. Die Englischlehrkraft Floriana brachte die Idee ins Spiel, es folgten Diskussionen. Schließlich einigte man sich darauf, dass der Weihnachtsbaum letztlich ein heidnischer Brauch sei und eher Tradition als Religion verkörpere - also wurde er aufgestellt. »Allerdings musste ich mir schon auch die Frage gefallen lassen, warum ich zum islamischen Opferfest keinen Hammel spende«, berichtet Ali. Die Gemüter haben sich wieder beruhigt. »Inzwischen finden alle, dass der Baum einfach eine tolle Dekoration ist und eine besinnliche Zeit symbolisiert.«
In einem der Klassenzimmer sitzen acht Schüler der Oberstufe und besprechen am Beispiel von »Prometheus« die Geniezeit im Sturm und Drang. Gerne lassen sie sich zwischendurch fragen, was sie von Weihnachten halten. »Das ist ein schönes Fest«, beginnt der 17-jährige Murat versonnen, »das Fest der Liebe und der Freude. Da fahren alle nach Hause zu ihrer Familie.« Er genieße es vor allem, dass um die Weihnachtszeit immer gute Filme im Fernsehen kämen, das passe zur Stimmung. Den christlichen Background, die Weihnachtsgeschichte, findet er ziemlich uninteressant. »Aber man sollte den Hintergrund schon kennen, schließlich leben wir ja in Deutschland.« Kaum älter als die anwesenden Schüler arbeitet ein weiterer Ali, ein 20-jähriger Maschinenbaustudent, nebenher als Deutschlehrer. Er sieht das ähnlich: »Schließlich wissen meine Kommilitonen auch über die muslimischen Feiertage Bescheid.« Im Laufe des Gesprächs erfahre ich, dass ein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt beliebt ist. Dass Mandeln und Lebkuchen hoch im Kurs stehen und so manche Mutter Weihnachtsdekoration am Fenster anbringt. Der 18-jährige Emre feiert mit seiner deutschen Freundin Weihnachten: »Natürlich beschenken wir uns auch gegenseitig.«
Schnell wird die Parallele zum Zuckerfest, dem islamischen Fest zum Abschluss des Fastenmonats Ramadan, gezogen. Ähnlich wie zu Weihnachten besucht in dieser Zeit jeder seine Verwandten und Freunde, es wird gemeinsam gegessen, und Süßigkeiten werden verschenkt. Und wenn Nicht-Muslime das Zuckerfest mitfeierten? Wie wäre das, frage ich. Murat findet das komisch. Doch die 17-jährige Tugce wendet ein: »Es ist immer schön, wenn man etwas Neues lernt. Also können auch Deutsche das Zuckerfest feiern.« Und Ali fügt hinzu, dass das Gemeinsamkeiten schaffen würde, und zeige, dass man vor dem anderen Respekt habe. Als ich die Nachhilfeschule verlasse, habe ich das angenehme Gefühl, mit einer sehr unverkrampften Generation gesprochen zu haben.
Die jüdische Gemeinde entzündet acht Kerzen
Gleich neben der Backstube »Salomon Bagels« in der Joachimstaler Straße in Charlottenburg-Wilmersdorf führt ein unauffälliger Eingang zu einer Synagoge, in der jeden Tag Gottesdienste abgehalten werden. Unübersehbar allerdings, dass der Zugang von der Polizei bewacht wird. Über der orthodoxen Synagoge befindet sich das Jugendzentrum »Olam«. Auf Hebräisch bedeutet das »Welt«. Allerdings ist das Wort, betrachtet man es genauer, sehr vielschichtig. Für die Jugendlichen bietet das Zentrum Raum zum Toben, für Austausch, aber hier wird auch Wissen über das Judentum und Israel vermittelt.
»Chanukka, wir bringen Licht ins Dunkel« kündigt ein selbstgestalteter Flyer an. Sobald am Himmel die ersten Sterne zu sehen waren, wurde dieses Jahr am 20. Dezember die erste von acht Kerzen angezündet. Das Lichterfest erinnert an die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem, welche nach jüdischer Zeitrechnung im Jahr 3597 (164 vor Christus) stattfand. Als es den Makkabäern gelang, die Herrschaft des Seleukidenreiches über Judäa zu beenden, wollten sie den jüdischen Tempeldienst wieder aufnehmen. Als man das Tempellicht der Menora, das eigentlich nie erlöschen darf, neu entzünden wollte, stellte man fest, dass das Öl nur für einen einzigen Tag reichen würde. Für die Herstellung neuen Öls benötigte man aber acht Tage Zeit. Doch wie durch ein Wunder reichte das Öl genau diese acht Tage. Dieser Geschehnisse wird durch das achttägige Chanukka jährlich gedacht.
»Mit Weihnachten ist es so, wie mit jedem religiösen Fest, das man miterlebt, wenn man in einem anderen Land ist. Man bekommt das mit und nähert sich an«, erklärt die Architekturstudentin Natalia. Eine Zeit lang sei vom jüdischen Museum und den Medien das Wort »Weihnukka« verwendet worden, erinnert sich der Abiturient David. »Natürlich haben wir auch nicht-jüdische Familienmitglieder und Freunde, die Weihnachten feiern. Dadurch werden viele von uns zweimal beschenkt.« Trotzdem stehen die beiden Weihnachten recht neutral gegenüber: »Wir feiern ja Chanukka.«
Deutsche ergehen sich im Einkaufsstress
David überlegt, er denke bei Weihnachten vor allem an Coca-Cola, an Weihnachtsmänner im September, eben die ganze Kommerzialisierung. »Ich glaube für viele Deutsche ist Weihnachten der Horror«, ergänzt Natalia, »sie brauchen für jeden ein Geschenk, und die Geschäfte sind überfüllt. Wir müssen bei Chanukka nicht jedem etwas schenken.« Sie ist sichtbar erleichtert, dass sie diesen Stress nicht hat. Ich kann das gut nachvollziehen, denn meine diesjährige Geschenkeliste ist noch nicht »abgearbeitet«, als ich mit ihr spreche, weil ich mich vor dem Rummel drücke.
Als ich einst gelesen habe, dass für Japaner die Religionszugehörigkeit weniger ein Entweder-oder sondern mehr ein Sowohl-als-auch sei, hat mich das sehr beeindruckt. Für sie bedeute es keinen Widerspruch Shintoist und gleichzeitig Buddhist zu sein. Beide Religionen sind im Laufe der Jahrhunderte eine Symbiose eingegangen. Ähnliches gilt für China. Davon scheinen der Islam, das Juden- und Christentum weit entfernt, tun sich gerade monotheistische Religionen, mit ihrem eifersüchtigen Gott, schwer mit solchen Vermischungen. Das Christentum hat mit der Ökumene noch seine Mühe. Und trotzdem frage ich mich, ob Akzeptanz, Bereitschaft zum Dialog und die zunächst vordergründige Anleihe von religiösen Attributen irgendwann zu tiefgreifenderen Verschmelzungen führen könnten.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.