Oh je, welch schöne Illusionen!

DREI VOLKSKAMMERABGEORDNETE BERICHTEN

  • Petra Pau
  • Lesedauer: 4 Min.

Kunst im Bundestag füllt Bände und ist in allen Hauptgebäuden präsent. Viele Werke spiegeln deutsche Geschichte wider. So auch das »Archiv der Deutschen Abgeordneten« von Christian Boltanski (Frankreich). Dort wird an alle Abgeordneten erinnert, die von 1919 bis 1999 demokratisch in deutsche Parlamente gewählt wurden. Auch an Adolf Hitler, was gelegentlich dazu führt, dass sein »Postfach« im »Archiv« zertreten wird.

Rolf Schwanitz (SPD) empört etwas anderes - und dies zu Recht. Die 400 Abgeordneten der am 18. März 1990 frei und demokratisch gewählten Volkskammer der DDR kommen in dieser Erinnerung nicht vor. Gerade so, als hätte es sie nicht gegeben.

Vor einigen Jahren wurde im Bundestag eine Dauerausstellung über die deutsche Verfassungsgeschichte eröffnet. Sie bebildert die Entwicklung von der Pauls-Kirchen-Bewegung 1848 über die Weimarer Republik bis zum bundesdeutschen Grundgesetz. »Wir sind ein Volk«, zeigte eine Schautafel den Sprung der DDR ins vereinigte Deutschland. Mehr nicht. Ich intervenierte bei der feierlichen Einweihung. Denn da fehlte doch wieder etwas. Zum Beispiel der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR.

In ihm standen wundersame Dinge. »Ohne freiwillige und ausdrückliche Zustimmung des Berechtigten dürfen persönliche Daten nicht erhoben, gespeichert, verwendet, verarbeitet oder weitergegeben werden.« Oder: »Ausländer dürfen in kein Land ausgeliefert oder ausgewiesen werden, in dem ihnen die Beeinträchtigung ihrer Menschenwürde … droht.« Oder: »Das Wappen des Staates ist die Darstellung des Mottos ›Schwerter zu Pflugscharen‹.« Oh je, welch schöne Illusionen. Und wie aktuell sie sind!

Sie werden ausgeblendet. Gegen dieses verordnete Vergessen wendet sich das Buch von Nicole Glocke »Spontaneität war das Gebot der Stunde«. Drei Abgeordnete der ersten und einzigen frei gewählten DDR-Volkskammer berichten, heißt es im Untertitel. Die Autorin urteilt nicht, sie lässt Rolf Schwanitz (SPD), Prof. Dr. Burkhard Schneeweiß (CDU) und Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) sprechen. Über die Volkskammer 1990, noch mehr über Persönliches davor und danach. Eine spannende Lektüre.

Ihre familiären Geschichten und ihr Werdegang in der DDR waren höchst unterschiedlich und widersprüchlich. Allein diese Beschreibungen laden zum Nachdenken ein. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich spätestens 1988/89 »politisierten«, wie es neudeutsch heißt - gegen das SED-System DDR, das sie zunehmend als bedrückend und unfrei empfanden. Der eine, indem er der SPD beitrat. Der andere, indem er »seiner« CDU helfen wollte. Die Dritte, indem sie den Bruch der PDS mit der SED forcierte. DDR-typisch? Ja, im Plural.

Drei DDR-Bürger, drei Seelen, drei Ambitionen, gemeinsam zu Besserem? Mitnichten. Schon bei der Frage, ob die DDR der BRD beitreten sollte, schieden sich die Geister. Rolf Schwanitz (SPD) war anfangs dagegen. Dagmar Enkelmann (PDS) blieb auf Alternativkurs. Und Burkhard Schneeweiß (CDU) fühlte sich vom Westen vereinnahmt. Aber eines haben alle drei noch in besserer Erinnerung. In der letzten Volkskammer der DDR stritt man noch primär um Lösungen und erst später gegeneinander.

Mit Abstand und nüchtern betrachtet, hatte die Volkskammer ab März 1990 nur noch eine Aufgabe: Die DDR abzuwickeln und, wie schließlich eine Mehrheit entschied, sie der BRD auszuliefern. Es war ein demokratisch legitimiertes Kapitulations-Parlament. Ich ahne, dieser Satz wird irgendwann gegen mich zitiert werden. Nur zu falsch, völlig falsch. Das Buch schreibt gegen solche Klischees an. Und es bestätigt sie zugleich. »Spontaneität« war unser Markenzeichen, erinnert sich Schwanitz. Und »Chaos«, ergänzt Enkelmann. Bewegte Zeiten und letztlich fast alles umsonst, resümiert Schneeweiß. Denn mit dem puren Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland wurden die meisten erarbeiteten Gesetze zu Makulatur.

Ich las es zugleich als Erinnerungsbuch. »Stimmt, der war ja auch dabei!« Oder: »Das hatte ich ja fast vergessen!« Das Buch bietet Einblicke in eine brisante Episode, empfehlenswert für besserwissende Wessis, auch Linke. Ich hätte mir noch eine vierte Erzählung gewünscht: Von einem DDR-Bürgerrechtler, der im geeinten Deutschland noch immer engagiert ist. Es gibt sie. Sie heißen nicht Gauck.

Nicole Glocke: Spontaneität war das Gebot der Stunde: Drei Abgeordnete der ersten und einzigen frei gewählten DDR-Volkskammer berichten . Mitteldeutscher Verlag. 239 S., br., 14,95 €.

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