Unterwegs nach Dschinnistan

Vor 100 Jahren starb Karl May - seine Werke preisen den Edelmenschen

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 5 Min.
Gewehre, aus denen nie ein Schuss fiel – von Karl May einst als Insignien seiner Abenteuerreisen erworben, heute Exponate des Karl-May-Museums Radebeul
Gewehre, aus denen nie ein Schuss fiel – von Karl May einst als Insignien seiner Abenteuerreisen erworben, heute Exponate des Karl-May-Museums Radebeul

»Von den südlichen Ausläufern der Pyrenäen her trabte ein Reiter auf die altberühmte Stadt Manresa zu.« Ein Satz wie ein Eröffnungsschachzug. Karl May stellte ihn 1882 an den Beginn des Romans »Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde«, mit dem seine eigene Jagd nach Ruhm und Anerkennung endlich die Zeiten der Entbehrung und Erniedrigung hinter sich lassen sollte.

Das Verheißungsvolle, das sich mit dem Ritt in das katalanische Manresa verband, sollte nun auch das Leben und die Karriere des 40-jährigen Autors bestimmen. Dieser kam nicht von den »Ausläufern der Pyrenäen her«, sondern vom Erzgebirge. Ein Höhenzug zwar ebenfalls, doch von May - in seiner Autobiografie »Mein Leben und Streben« (1910) - mit dem »niedrigsten, tiefsten Ardistan« gleichgesetzt, jenem fiktionalen Land des Elends, des Leids und der Sorge, dessen Wandlung in ein Land des Friedens, der Liebe und des Wohlergehens er in seiner großen Altersdichtung »Ardistan und Dschinnistan« (1909) zum zentralen Thema erhob.

Die Suche nach dem Weg vom flachen, wüsten Ardistan ins fruchtbare Dschinnistan mit seinen ins Himmlisch-Hoffnungsvolle ragenden Gipfeln und in Glück und Liebe schwelgenden Bewohnern trieb den am 25. Februar 1842 im sächsischen Ernstthal Geborenen zeitlebens um, bis zu seinem Tod am 30. März 1912 in Radebeul.

»Sieg, großer Sieg! Ich sehe alles rosenrot« sollen, nach Darstellung seiner Witwe und zweiten Frau Klara, die letzten Worte des kleinen Mannes (1,66 Meter) mit der großen Fantasie gewesen sein. Worte, die wirken wie ein letztes Aufbäumen der Illusion, die sich selbst im Sterben noch gegen die Realität wehrt. Denn auf den großen Sieg, wie ihn sein Alter Ego ungezählte Male am Silbersee oder in den Schluchten des Balkan, am Llano Estacado oder im Reiche des silbernen Löwen errang, hatte Karl May in der letzten Dekade seines Lebens vergeblich gehofft.

Die Fronten und Gräben der Kämpfe, die der Dichter seit der Jahrhundertwende ausfocht, zogen sich nicht durch Prärie oder Wüste wie in seinen vom Freiburger Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld herausgegebenen Gesammelten Reiseerzählungen. Doch Hinterhalten, Anschlägen und Fallen musste sich der zunehmend auch gesundheitlich angeschlagene Erfolgsautor reichlich erwehren. Die Auseinandersetzungen mit dem Verlag Münchmeyer um seine frühen Kolportageromane, der Niedergang der Ehe und die Scheidung von seiner ersten Frau Emma, die Zerstörung der exzentrisch-eigensinnigen Identifikation Mays mit seinen Bücherhelden Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, das Bekanntwerden seiner lange zurückliegenden kleinkriminellen Vergehen und mehrjährigen Haftzeit, endlose Beleidigungsprozesse - all das behinderte den Schriftsteller darin, seine »eigentliche« Berufung zu erfüllen: Ein Werk zu schaffen, das sich weit über sein bisheriges erhob. Und das eine religiös-philosophische Botschaft transportierte, die nichts weniger zum Ziel hatte, als die Menschheit besser zu machen, friedfertiger, edler.

Es handele sich, so May 1907 in einem Brief, »um das Gelingen eines Lebenswerkes, welches bestimmt ist, Millionen von Menschen zu beglücken«.

Sicher: Diese Aussage ist ein Ausdruck typisch Mayscher Maßlosigkeit, wie sie mit der Old-Shatterhand-Legende einhergeht (so das angebliche Verstehen von über 1200 Sprachen und Dialekten). Aber es ist auch eine Maßlosigkeit des Vertrauens und Zutrauens in die menschlichen Möglichkeiten. Es ist das Hoffen darauf, dass der Mensch es schafft, maßlos zu sein im besten Sinne. Um sich weiter-, um sich hinaufzuentwickeln zum »Edelmenschen«. Es war Mays Kontrastprogramm zum »Übermenschen« Friedrich Nietzsches.

Gestalt gab May diesem Programm auch in dem Vortrag, den er in Wien acht Tage vor seinem Ableben hielt: »Empor ins Reich der Edelmenschen«. Gut 20 Jahre später herrschte das »Reich der niederen Dämonen« (Ernst Niekisch), triumphierten die Gewaltmenschen aus Ardistan mit ihrem Vernichtungswahn, deren Sendbote bei Mays Rede im Publikum des Sofiensaals saß: Adolf Hitler.

Dass Karl May später als Lieblingsautor des »Führers« galt, hat seiner Reputation und Rezeption zeitweise geschadet. Dass das Werk des pazifistischen Schriftstellers, der Rassenverschwisterung und Völkerverständigung pries, nur durch Ignoranz, Selektierung und zensorische Eingriffe Duldung in der NS-Ideologie finden konnte, ist heute unbestritten.

Der Krieg war für May das absolut Böse. Diese Überzeugung durchzieht nicht nur die Alterswerke mit ihren religiös-symbolistischen Utopien oder den politischen Agitationsroman »Und Friede auf Erden!« (1901), in dem May den wilhelminischen Imperialismus verdammt.

Auch seine früheren Reiseerzählungen um Old Shatterhand und Winnetou, um Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar sind - bei allem abenteuerlich-kämpferischen Geschehen - geprägt von der Suche nach Konfliktlösungen, die Gewalt nicht als oberste Option, sondern als Ultima Ratio sehen. Mays fiktive Reisen (erst 1899 begab er sich tatsächlich in den Orient, 1908 nach Nordamerika) sind ungeachtet aller äußerlichen Turbulenzen immer auch Reisen in sein Inneres. Ein Inneres, das nicht nur von pseudologischem Imponiergehabe und exzessiver Fantasie erfüllt war, sondern auch von dem missionarischen Drang, die Bergpredigt Jesu in unterhaltende und belehrende Literatur zu verpacken.

Dass diese Verpackung in den Werken ab 1899 (im Gefolge der Orientreise) zunehmend die gewohnte Abenteuerhandlung dominierte, verstörte und verärgerte viele bisherige Leser und ließ - verstärkt durch die Kampagnen gegen May - den Absatz sinken. Erst nach der Gründung des Karl-May-Verlags 1913 konnte dieser Tendenz begegnet und die weltweite Gesamtauflage auf heute 200 Millionen gesteigert werden.

Doch Kompromisse zulasten seiner Überzeugung waren die Sache des sächsischen Fabulierers nicht. Die Gewissheit, das Richtige zu tun, konnte sein skeptischer Verleger Fehsenfeld ebenso wenig zerstören wie orthodoxe Kirchenleute Mays ökumenische Gesinnung. Letztere ließ den Lutheraner May zwar stets die Vorzüge des christlichen Glaubens rühmen, aber konfessionelle Überhebungen ebenso ablehnen wie Herabsetzungen anderer Religionen.

Mays christlicher Humanismus galt zudem jeglicher Kreatur, Mensch und Tier gleichermaßen. So findet sich in »Winnetou I« (1893) ein leidenschaftliches Plädoyer des Apachenhäuptlings gegen die in der weißen Zivilisation praktizierte Vivisektion. Karl May eignete eine genuine »Ehrfurcht vor dem Leben« - den Begriff prägte drei Jahre nach Mays Tod Albert Schweitzer.

Bis heute bieten Karl Mays Bücher bereichernde Ausblicke. Ausblicke, von denen der letzte Satz in »Ardistan und Dschinnistan«, Mays bedeutendstem Werk, poetisch kündet: »Wir aber wendeten uns nun den Bergen zu, über deren Pässe der Weg nach Dschinnistan führte, unserem hohen, weiteren Ziele entgegen.«

»Vor allen Dingen bin ich Mensch, und wenn ein andrer Mensch sich in Not befindet und ich ihm helfen kann, so frage ich nicht, ob seine Haut eine grüne oder blaue Farbe hat.« (Karl May, Old Surehand I).

Karl May 1896 - als Old Shatterhand (l.) und Kara Ben Nemsi (r.)
»Vor allen Dingen bin ich Mensch, und wenn ein andrer Mensch sich in Not befindet und ich ihm helfen kann, so frage ich nicht, ob seine Haut eine grüne oder blaue Farbe hat.« (Karl May, Old Surehand I). Karl May 1896 - als Old Shatterhand (l.) und Kara Ben Nemsi (r.)
Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!