Und Breivik weinte
ZUR SEELE: Erkundungen mit Schmidbauer
Als die Reporter in Zwickau um die Häuser zogen, um die Nachbarn nach dem rechtsradikalen »Terrortrio« zu befragen, waren die Auskünfte bizarr und ernüchternd zugleich. Nette, höfliche junge Leute, die grüßen, mal auf einen Plausch vorbeikommen oder helfen ein Fahrrad die Treppe hoch zu tragen. Nein, uns ist nichts aufgefallen, wir haben nichts bemerkt, es waren ganz normale Menschen! Unvorstellbar, was sie taten!
Das in den Medien repräsentierte und nicht immer so ganz gesunde Volksempfinden scheint davon auszugehen, dass brutale Mörder stets mit entblößten Reißzähnen durch die Gegend laufen, niemanden anlächeln und jeden merken lassen, was sie für böse Menschen sind. Ich kann mich gut in diese Haltung hineinversetzen. Ich denke dann an mein erstes Praktikum in einer psychiatrischen Anstalt. Ich war damals knapp 20 Jahre alt, kam nach Haar (so hieß damals die größte »Anstalt« in Bayern, heute »Isar-Amper-Klinikum«) und erwartete in heimlichem Grausen lauter Verrückte, wie ich das aus dem Kino kannte - in jedem Winkel eine Bizarrerie, jemand, der sich für Jesus hielt oder für Napoleon, der gestikulierte, Stimmen hörte, den Kopf gegen die Wand schlug oder mich erdrosseln wollte.
Was ich vorfand, waren Menschen, die normal wirkten. Nur die Einrichtung selbst - die vielen verschlossenen Türen, die auf- und zugesperrt wurden, die großen Wachsäle und die merkwürdigen Bäder passten zu meinen Erwartungen an das Irrenhaus. Es war eine geschlossene Aufnahmestation für Frauen, und die Kranken, mit denen ich sprach und die ich testete, schienen dankbar für die Zuwendung.
Allmählich habe ich dann herausgefunden, wie verrückt die Normalen sein können und wie normal die Verrückten. Es hängt meist nur an einem dünnen Faden, ob jemand draußen lebt und als harmloser Sonderling gilt oder eingesperrt wird, weil sein Zustand von seinen Angehörigen nicht mehr kompensiert wird. Fast alle so genannten Schizophrenen haben viele, viele normale Seiten. Freilich, es fehlt ihnen auch etwas, vielleicht eine Winzigkeit, die unsereinen von ihnen unterscheidet.
Wer sich das klar macht, den wird es auch weniger verwundern, dass angesehene Autoritäten unter den forensischen Psychiatern den norwegischen Terroristen Anders Breivik zuerst für schizophren und unzurechungsfähig, dann aber für persönlichkeitsgestört und verantwortlich für seine Taten gehalten haben. Er ist nun wirklich beides zugleich - zu gesund und auf seine bösartige Weise realitätstüchtig, um als Geisteskranker durchzugehen, zugleich aber ferner von jedem Menschengefühl und Menschenverstand angesiedelt, als wir das bisher bei Terroristen erlebt haben.
Wie bei anderen aus der neuen Generation der Massenmörder gibt es auch bei Breivik eine Art gesellschaftliches Entgegenkommen, das den Unterschied zwischen verrückt und normal noch zusätzlich verwischt. Während früher die Verrückten allein mit der Aufgabe waren, sich eine Welt nach ihren Größenvorstellungen zu zimmern, kommt ihnen heute die milliardenschwere Industrie der Bildschirmspiele entgegen und baut ihnen eine Otherworld, in der sie ihre Heldentaten als schwer bewaffnete Ritter absolvieren können.
Breivik hat sich durch Computerspiele auf seine Taten vorbereitet und gleichzeitig von seiner kläglichen, beziehungsunfähigen, kontaktgestörten Realexistenz abgelenkt. Er war der Tempelritter, er wollte Tötungspunkte sammeln, er hat aus Notwehr gehandelt und korrekte Urteile vollstreckt - so die selbstgebastelte Logik in dem Gemisch aus Abenteuerspiel und Realität, in dem er anscheinend immer noch lebt.
Als Breivik im Gerichtssaal Namen und Schicksale seiner Opfer hörte - und das dauerte sehr lange - verzog er keine Miene. Aber als er sein grandioses Video sah, die Darstellung seiner Traumwelt, von Bösewichten verseucht, von Tempelrittern in wehenden Mänteln und gezückten Waffen gerettet, da hat er geweint. Das einzige Schicksal, das ihn rührte, war seine eigene, verkannte Größe.
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