Er lügt wie ein Augenzeuge
Julian Barnes brilliert in seinem neuesten Roman mit der Unzuverlässigkeit unserer Erinnerungen
Eine Grundregel der Kommunikation lautet: Entscheidend ist nicht, was A sagt, sondern wie es bei B ankommt. Daraus sind schon Krisen und Kriege entstanden, geschäftliche wie private, internationale und emotionale. Der Draht zwischen A und B gerät bereits im Augenblick des Geschehens leicht an Grenzen, doch wenn er auch noch aus der Vergangenheit herüberreicht und auf die Genauigkeit mitmenschlicher Erinnerungen angewiesen ist, dann ist er schnell von guten Geistern verlassen - und die Erkenntnis manch gebrannten Kinds nicht weit: Er lügt wie ein Augenzeuge.
Der Ich-Erzähler in Julian Barnes' Roman »Vom Ende einer Geschichte«, der ihm im vierten Anlauf endlich die wichtigste britische Auszeichnung, den Booker Prize, brachte, erlebt das Trügerische seines vermeintlich exakten Erinnerungsvermögens so umfassend, dass daran die Freundschaft zu seinem besten Freund und zu einer Frau zerbrach - und unter den Händen von Barnes daraus ein wunderbares Buch entstand. Wir brauchen hier gar nicht die Rahmenhandlung auszubreiten. Man muss nur wissen, dass es um Tony, einen im Ruhestand befindlichen Briten, geht, der an seine drei besten Freunde aus Schul- und College-Tagen in den 60er-Jahren, namentlich an den allseits bewunderten Adrian, und an seine einstige Freundin Veronica zurückdenkt, die ihm Adrian ausspannte, bald darauf aber sein Leben durch Freitod beendete.
Tonys Erinnerungen scheinen sicher und zuverlässig. Er weiß, dass er nicht halb so kompromisslos wie Adrian war. Er weiß, dass er in Veronica verliebt war, aber auch wieder nicht so kopf- und besinnungslos, wie es einer großen Liebe angestanden hätte. Und er weiß, dass er, Tony, sich, im Unterschied zu Adrian, immer widerstandslos mit den tatsächlichen wie behaupteten Zwängen des Lebens abfand, immer anständig voranglitt und sich als Beamter in einer Kulturverwaltung ein Fundament schuf, von dem aus sein Rückblick erfolgt.
»Nach meinen Maßstäben fand ich mich mit den Realitäten des Lebens ab und unterwarf mich seinen Notwendigkeiten: wenn dies, dann das, und so gingen die Jahre dahin«, rechnet Tony sich vor. Nun aber stellt er fest: »Nach Adrians Maßstäben hatte ich das Leben aufgegeben, hatte aufgegeben, es genau zu betrachten, nahm alles, wie es kam. Und so spürte ich zum ersten Mal eine umfassendere Reue - ein Gefühl, das irgendwo zwischen Selbstmitleid und Selbsthass angesiedelt war - über mein ganzes Leben. Mit allem, was dazugehörte. Ich hatte die Freunde meiner Jugendzeit verloren. Ich hatte die Liebe meiner Frau verloren. Ich hatte alle Ambitionen aufgegeben, die ich einst gehegt hatte. Ich hatte gewollt, dass das Leben mir nicht allzu sehr zusetzt, und das hatte ich geschafft - und wie erbärmlich das war.«
Verschiedene Entwicklungen, darunter eine überraschende kleine Erbschaft, mit der ihn Veronicas verstorbene Mutter bedachte, hatten Tonys Erinnerungsgebäude ins Wanken, in wesentlichen Fragen zum Einsturz gebracht und ihn in eine stille Ecke gedrängt, umzingelt von der größeren Frage: »Du kommst ans Ende des Lebens - nein, nicht des Lebens an sich, sondern von etwas anderem: das Ende jeder Wahrscheinlichkeit einer Änderung in diesem Leben. Du darfst lange innehalten, lange genug, um die Frage zu stellen: Was habe ich sonst noch falsch gemacht?«
Auch er weiß, dass unabhängig davon, ob einer ein Durchwurstler oder ein Durchreißer ist, beide im Leben Schaden nehmen. Ja, Leben beschädigt. Aber Tony begreift mit nicht mehr einholbarer Verspätung, dass die Unvermeidlichkeit kein Freibrief für Haltungsschwäche darstellt. Ist Geschichte, wie Tony am Gymnasium dem Lehrer etwas zu rasch antwortet, wirklich »die Summe der Lügen der Sieger«? Oder ist Geschichte, wie der rätselhafte Adrian in derselben Unterrichtsstunde, einen Franzosen zitierend, erklärte, »die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen«? Oder aber ist Geschichte doch, wie Tony sich im Lichte seines spät entdeckten Versagens nunmehr sicher gibt, »eher die Summe der Erinnerungen derer, die viel überlebt und viel überstanden haben und meistens weder Sieger noch Besiegte sind«? Oder ist auch dies nur Mittelweg auf dem Weg ins Mittelmaß?
Das Buch von Julian Barnes (Jahrgang 1946), der mit »Flauberts Papagei« den Durchbruch erzielte und bis heute ein umfängliches Werk vorgelegt hat, verblüfft durch den kleinen Umfang, mit dem es so großen Fragen nachgeht. Es gewinnt durch das anstrengungslose Understatement seiner Erörterung. Es überzeugt durch knappste, effektscheue und klare Sprache, von Gertraude Krueger glänzend übertragen. Und es erzeugt beim Lesen nie den Verdacht, versuchtem Zeitdiebstahl anheimgefallen zu sein.
Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch. 182 S., geb., 18,99 €.
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