Bereichernde Unterschiede
Gregor Gysi fragt, wie weit seine Partei gekommen ist mit ihrem Versprechen auf eine neue Linke
Vor fünf Jahren haben sich Linkspartei.PDS und WASG vereinigt. Allein die Ankündigung im Jahr 2005 sorgte für einen sprunghaften Anstieg in den Umfragen. Das, was 2005 einen Wahlerfolg erzielte, war nicht nur die alte PDS, nicht nur die WASG, auch nicht nur die bloße Summierung beider, sondern es war das Versprechen auf eine neue linke Partei, die sich klar gegen Neoliberalismus und Militarismus positioniert, die eine Stimme sein will für diejenigen, die in einem hemmungslos gewordenen Kapitalismus unter die Räder zu geraten drohten. Es war auch das Versprechen, die verschiedenen politischen Traditionen, die mit »links« verbunden werden, in einen produktiven Prozess einzuspeisen. Das nannten wir »neue soziale Idee«.
Ich muss aber konstatieren, dass wir innerparteilich mit unserem Versprechen nicht weit gekommen sind. Was wir haben, ist ein Grundsatzprogramm, auf das wir uns mit größter Mehrheit geeinigt haben. Wenn es trotzdem ein solches Ausmaß an Konfrontationen gibt, das für viele abstoßende Züge angenommen hat, dann liegt der Grund also woanders. Und ich behaupte, dass wir es bislang nicht vermocht haben, im Unterschiedlichen Bereicherndes zu sehen und zu finden.
Auf dem Göttinger Parteitag habe ich einerseits die Geschichte der PDS als eine Erfolgsgeschichte charakterisiert und andererseits darauf hingewiesen, dass die PDS an eine Schranke gestoßen war. Wir waren die politische Stimme für diejenigen, die zu Verlierern der deutschen Einheit geworden waren. Es war mehr als schrecklich und entwürdigend für viele Menschen mitgeteilt zu bekommen, dass sie eigentlich überflüssig seien, dass ihre bisherige Tätigkeit sinnlos gewesen wäre. Das betraf ja nicht nur den Herrschaftsapparat. Das betraf auch Künstler, die Angehörigen von Universitäten und Facharbeiter. Schon weil es sich um so viele Menschen handelte, mussten wir zur Überzeugung gelangen, dass für diese Konflikte Lösungen im gegenwärtigen Gesellschaftssystem gesucht und gefunden werden müssen.
Wir bildeten die PDS aber auch aus der Überzeugung, dass eine sozialistische Gesellschaft, die wir immer noch anstrebten, auf politische Demokratie angewiesen ist. Wir mussten eine Funktion in der Gesellschaft anstreben, die beides aufnehmen kann: die Ablehnung des Kapitalismus und die Bereitschaft, Verbesserungen im System sowohl durch Opposition als auch durch Regierungsbeteiligung zu erreichen. Über diese Funktion müssen aber die Wählerinnen und Wähler entscheiden. Wir waren weder eine sozialdemokratische noch eine kommunistische, sondern eine sozialistische Partei, wenngleich auch sozialdemokratisch oder kommunistisch Gesinnte in unseren Reihen blieben. Die PDS war nicht die Abkürzung für »Partei der Stöckchenspringer«.
Die PDS musste eine epochale Niederlage gründlich verarbeiten. Diejenigen, die 1989/90 ernsthaft in sozialistischer Politik ein legitimes Anliegen sahen, galten als Überlebende einer untergegangenen Zeit. In der PDS führte die Neuerarbeitung sozialistischen Denkens zugleich zu einer Art Misstrauen. Und zwar insbesondere gegenüber abgeschlossenen Denksystemen und einem dogmatischen Gebrauch von Wahrheitsansprüchen. Diese Erfahrung führte zu einem PDS-typischen Stil der politischen Rede. Exemplarisch dafür steht Lothar Bisky: nachdenklich, eher erörternd und abwägend, selten nur polemisierend; selbst Wut äußert sich bei ihm eher in bitterem Sarkasmus. Zugleich mussten und konnten wir uns für Traditionen der westlichen Linken öffnen: Ich nenne hier Antimilitarismus, Feminismus, Ökologie, bürgerrechtliche Orientierung.
Die Schwäche der Partei bestand darin, dass sie aus einer kleinbürgerlichen Struktur kam, die ihre Kultur prägte. Das sowie die faktische Begrenzung auf die ostdeutschen Bundesländer führte zu einem Binnendiskurs, der einengt. Außerdem hatten wir einen mangelnden Zugang zur Gewerkschaftsbewegung. All diese Phänomene darf man etwas böse auch mit dem Wort »Provinzialismus« kennzeichnen.
Die Vereinigung mit der WASG hatte in mir die Hoffnung geweckt, dass sich diese Begrenzungen aufbrechen lassen, andererseits aber die Diskussionsfortschritte der PDS stärkeren Eingang in der LINKEN fänden. Was die PDS in die gemeinsame Partei einbringen konnte, waren die demokratisch-sozialistische Identität und die sehr unterschiedlichen Erfahrungen aus der DDR.
Ich habe schon auf die Verdienste der Westlinken bei Antimilitarismus, Feminismus und der Ökologie hingewiesen, vor allem verteidigten sie gegen den Mainstream die Schwächeren gegen die Stärkeren. Diese emanzipatorischen Überzeugungen hatten sich nur zum Teil innerhalb der dort im linken gesellschaftlichen Spektrum vorherrschenden Partei, der SPD, entwickelt, größtenteils eher außerhalb und autonom von ihr, zumeist sogar in direkter Konfrontation mit ihr.
Die Sozialdemokratie hat einen langen Weg zurückgelegt von der revolutionären zur reformistischen Klassenpartei und anschließend zur Volkspartei, auch einer Partei der »neuen Mitte«. Erhalten geblieben ist ein Parteiverständnis, das die Arbeiterklasse formieren sollte, ohne jetzt noch Arbeiterpartei zu sein. Damit verbunden ist ein autoritärer Politikstil, das sogenannte Durchstellen, und die politische Rede ist orientiert an der Ansage. Stärker noch ist dieses Moment in einigen Gewerkschaftsorganisationen ausgebildet, denn dort hat es eine immer noch nachvollziehbare Funktion. Die Ansprache soll die vielen Einzelnen zur machtvollen Einheit formieren, die wiederum Legitimation und Drohpotenzial in der Tarifauseinandersetzung bildet. Die Gewerkschaftslinke bestimmt aus dem Zweck der gewerkschaftlichen Organisation, Klassenorganisation zu sein, auch einen politischen Inhalt: verteilungspolitische Klassenpolitik, nicht Korporatismus.
Für die SPD und die Gewerkschaften ist der Sozialabbau und die schon lange anhaltende Senkung der Lohnquote innerhalb der Gesamteinkommen trotz eigener Mitwirkung eine Niederlage. Diese Mitwirkung ist auch einer der Gründe, weshalb viele in unserer Partei so - zum Teil zu - allergisch auf die SPD reagieren. Sie nehmen ihr den Verrat an sozialdemokratischen Werten unter Schröder übel. Das erinnert an enttäuschte Liebe, die psychologisch verständlich ist. Politisch ist dies jedoch falsch.
Ich muss gestehen, ich erwarte mir von der SPD kaum etwas anderes. Die SPD hat die Neigung, Fortschrittliches nur dann zu tun, wenn die Mächtigen nicht allzu viel dagegen haben. Die SPD muss gezwungen werden, etwas Fortschrittliches zu tun. Der Zwang kommt durch eine - möglichst starke - Alternative. Die Wahlalternative entsteht dadurch, dass wir begreiflich machen müssen, dass etwas besser werden könnte, wenn wir mitregierten und dieses »besser« ohne uns nicht zustande käme. Dann verfehlt die sozialdemokratische Kooperationsverweigerung auch ihre beabsichtigte Wirkung, uns aus dem Spektrum der zu Wählenden zu drängen.
Das Spektrum der Westlinken außerhalb der SPD war und ist sehr heterogen. Kommunisten, desgleichen Sozialisten, hatten in der Alt-BRD, im Unterschied zu SED-Mitgliedern in der DDR, einen schweren Stand. Es gab und gibt ein massives antikommunistisches Ressentiment. Sie wurden ausgegrenzt und drangsaliert. Und sie wussten, dass das passieren wird und entschieden sich trotzdem bewusst für ihre Haltung. Erschwerend kam noch hinzu, dass ihnen auch ohne Grund die DDR vorgehalten wurde.
Was passiert eigentlich mit radikalen Linken, die alltäglich die Erfahrung machen, dass die Klassen, deren Interessen bei ihnen, wie sie meinen, am besten aufgehoben wären, sich überhaupt nicht für ihre Ideen erwärmen können? Man träumt sich gern an die Enden der Welt, in denen (scheinbar oder real) ein revolutionärer Prozess noch stattfindet. Viele waren begeistert von Che Guevara, dann von Ho-Chi-Minh, andere von Mao Zedong, wieder andere hatten andere Vorbilder, bis hin zu obskuren Gestalten wie Enver Hoxha. Das kann sich auch verlagern auf Krisengebiete wie den Nahen Osten, wo es dann nur einen Guten, und vor allem nur einen Bösen gibt.
Sympathien mit Völkern, die sich auflehnen gegen imperialistische Unterdrückung, sind völlig berechtigt. Man versucht so aber auch, der eigenen frustrierenden Realität zu entrücken. Hinzu kommen schematisierende Sichten. Die Menschrechtsverletzungen, die die USA und ihre Handlanger zu verantworten hatten, wurden angeprangert. Auch in Staaten, die sie verteidigten, gab es aber Menschenrechtsverletzungen, die sie - hier in Übereinstimmung auch mit Ostlinken - häufig übersahen. Bis heute fällt es uns schwer, ein kohärentes Konzept zur Menschenrechtspolitik zu entwickeln. Und es hält sich bis heute bei nicht wenigen von ihnen eine Vorliebe für außenpolitische Themen teils mit einem Koordinatensystem, das der Zeit nicht mehr entspricht. Diese Gruppen hatten ein Ressentiment gegenüber der Sozialdemokratie, wegen deren reformistischer Orientierung.
Die bittere Erfahrung der Niederlage hat auch ein anderer Teil der Westlinken, die »Bewegungsorientierten«, gemacht. Der Feminismus, einst Herrschaftskritik, existiert heute in diversen Gestalten. Der weibliche Anteil an Vorstandsposten in ökonomischen und politischen Organisationen sowie Verwaltungen und Regierungen wird gezählt, aber die Machtstruktur nicht in Frage gestellt. Das ist zwar besser als nichts, aber der große Impuls hat sich aufgezehrt. Es gab die großen Kämpfe gegen die De-facto-Abschaffung des Asylrechts, gegen den Großen Lauschangriff und vieles mehr. Hier handelt es sich um die Verteidigung grundrechtlicher Standards. So wurde ein alternatives Expertenwissen gebildet. Kontakte mit Großorganisationen, mit Gewerkschaften, überhaupt mit Arbeitnehmern, fanden nur vermittelt über Aktionsbündnisse statt, interessierten ansonsten hier aber kaum.
Inzwischen sind Niedriglöhner gegen Hartz IV-Bezieher in Stellung gebracht. Die Krise verstärkt Entsolidarisierungsprozesse zwischen Kernen der Arbeiterschaft und Leiharbeitern. Man kann das auch so ausdrücken: Das gesellschaftliche Bündnis der Anti-Agenda-Proteste, das uns eine Zeit lang getragen hat, existiert so nicht mehr. Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke charakterisiert diese Lage als Klassenkampf ohne Klassenbewusstsein. Klassenkämpfe erscheinen hier als Konkurrenzkämpfe um Statuserhalt.
Wir haben in Ost und West gemeinsame Probleme: Wir verlieren bei Wahlen, wir haben ernste Schwierigkeiten beim Gewinnen junger Mitglieder und Wähler, wir werden selbst in der eigenen Anhängerschaft nicht mehr mit dem Profil wahrgenommen, mit dem wir wahrgenommen werden wollen. Und diese Probleme lassen sich nicht durch Kämpfe gegeneinander lösen.
Vielleicht käme unsere Partei ein Stück weiter, wenn sie über ihre Geschichte auch als eine Geschichte der Niederlagen spräche. Man kann daraus lernen - auch und gerade voneinander. Wir kämen jedenfalls dann weiter, wenn wir endlich die eigene Beschränktheit, und die Anderen auch als die notwendig ergänzende Bereicherung begriffen.
Die LINKE
Die Partei DIE LINKE gründete sich am 16. Juni 2007 durch eine Fusion von PDS und WASG, die eine Quellpartei ostdeutsch, die andere westdeutsch geprägt. Sie hat heute rund 70 000 Mitglieder und ist mit knapp zwölf Prozent und 76 Abgeordneten im Bundestag vertreten. Im Europäischen Parlament hat sie acht, in elf Landesparlamenten 178 Mandate. Zu ihrer Verankerung vor Ort zählen 76 hauptamtliche und 215 ehrenamtliche Verwaltungsfunktionen und über 6000 ehrenamtliche Mandate in kommunalen Vertretungen. Nach mehreren dürftigen Wahlergebnissen in den vergangenen zwei Jahren und heftigen Personalquerelen, die die Partei nahezu lähmten, wählte ein Parteitag Anfang Juni mit Katja Kipping (Sachsen) und Bernd Riexinger (Baden-Württemberg) eine neue Doppelspitze.
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