Friedhof in der Senne

35 Jahre »Blumen für Stukenbrock«

  • Hans Canjé
  • Lesedauer: 3 Min.
Vertreter des ostwestfälischen Kreises Gütersloh, der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und Gäste aus Russland werden an diesem Wochenende in der Gemeinde Schloß Holte-Stukenbrock zum Gedenken an die hier auf einem Waldfriedhof beigesetzten 65000 sowjetischen Kriegsgefangenen erwartet. Die Feierstunde am ersten September-Wochenende ist Tradition, Konsens in der Erinnerung. Das war nicht immer so. Als vor 35 Jahren der gerade gegründete Arbeitskreis »Blumen für Stukenbrock« zur Ehrung der auf dem größten sowjetischen Soldatenfriedhof Deutschlands beerdigten Kriegsgefangenen aufrief, da trat der staatliche Überwachungsapparat in Aktion. »Verkappte Kommunisten«, »Moskaus 5. Kolonne« sah man am Werk. Hohe Zeit für den Verfassungsschutz. In der Bundesrepublik ging, wie eine Dokumentation des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe über das einstige Kriegsgefangenenlager resümiert, in dieser Zeit »der Antibolschewismus der Nationalsozialisten nahtlos in den Antikommunismus des Kalten Krieges über, in dessen Gefolge die Friedhöfe der sowjetischen Kriegsgefangenen Bestandteile der politischen Auseinandersetzungen wurden.« Mit der Errichtung des Kriegsgefangenenlagers (Stalag 326 - VI K) in der Senne war unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juli 1941 auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz begonnen worden. Als die ersten Gefangenen am 11. Juli 1941 in der Sennestadt eintrafen, mussten sie sich zum Teil selbst Erdlöcher als Unterkunft schaufeln. Vom Bahnhof Hövelhof waren sie den fünf Kilometer langen Weg durch den Ort zum Lager getrieben worden. Die örtliche Presse hatte die Bevölkerung entsprechend eingestimmt. »Bolschewistische Söldner« seien es, die da zu erwarten sind, war am 10. Juli 1941 im Paderborner »Westfälischen Volksblatt« zu lesen. Dem Auge biete sich »das Primitivste und Niedrigste, das zur weißen Rasse zählt. Regelrechte Verbrecherphysiognomien, stiernackig, mit flachen Stirnen und einem falschen, hinterlistig flackernden Blick in den Augen...« Und weiter: »Beim Anblick dieser menschlichen Unnaturen drängt sich einem mit aller Gewalt die Überzeugung auf, dass es in der Tat höchste Zeit war, den Bolschewismus, diese Rückschritterscheinung der Menschheit mit Stumpf und Stiel auszutilgen.« Im Stalag Sennelager wurde an dieser Aufgabe kräftig mitgewirkt. Etwa 300000 sowjetische Kriegsgefangene gingen durch das Lager. Zeitweise mussten 200000 sowjetische Kriegsgefangene im Ruhrbergbau als Zwangsarbeiter fronen. 65000 haben in diesem Lager die Jahre der Gefangenschaft nicht überlebt. Sie verhungerten, starben an Seuchen und Misshandlungen. Der »Anfall« an Leichen war derart hoch, dass man sich zur Anlage eines eigenen Friedhofs gezwungen sah. Als die Amerikaner am 2. April 1945 das Lager befreiten, fanden sie nach einem Bericht des US-Reporters John M. Mecklin noch etwa 9000 »vor Hunger wahnsinnig gewordene Gefangene«. Und er schrieb: »Dies ist ein Ort, an den man sich erinnern muss, wenn der Nazismus erst einmal zur Rechenschaft gezogen wird.« Mit Hilfe der amerikanischen Truppen errichteten Überlebende auf dem Waldfriedhof einen Obelisken. Eine Tafel erinnert in russischer, deutscher und englischer Sprache. Die Jahre des Kalten Krieges ließen die von dem amerikanischen Reporter erhoffte Ahndung der faschistischen Verbrechen zur Farce werden. Die Erinnerung verblasste, und der Friedhof in der Senne verkam. Keiner fühlte sich mehr zuständig in den Jahren, als Politik gemacht wurde unter der Losung »Die Russen kommen«. Die Russen brauchen nicht zu kommen, hatte eine Denkschrift engagierter Bürger in dieser Zeit auf die staatliche Hysterie geantwortet. »Sie sind schon da, die Russen. 65000 liegen auf dem Waldfriedhof von Stukenbrock.« Nur wenige nahmen die Mahnung auf. Es wurde, laut der bereits zitierten Dokumentation des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, nicht nur laut über die Beseitigung der Denkmäler nachgedacht, »sondern an einigen Orten, so etwa in Sandbostel, diese Gedanken durch Sprengung sogar in die Tat« umgesetzt. Britische Dienststellen konnten in Stukenbrock die geplante Schandtat verhindern, die der Detmolder Regierungspräsident angesichts des planvollen Verfalls des Stukenbrocker Obelisken gefordert hatte. Erst als 1989 Raissa Gorbatschowa, die Frau des damaligen sowjetischen Staatspräsidenten, eine Fahrt nach Stukenbrock unternahm, begannen umfassende Sanierungsarbeiten. Selbst die roten Sterne auf den Grabsteinen wurden aufpoliert. Eine üble Verfälschung des Obelisken allerdings ist bis heute nicht rückgängig gemacht worden: Die rote Fahne auf seiner Spitze war auf Betreiben der CDU-geführten Landesregierung demontiert und durch ein orthodoxes Kreuz ersetzt worden.
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