- Kultur
- Sachbuch
Zeitzeugen
Leseprobe
Der Titel dieses Bandes formuliert eine Übertreibung, die aber längst eine historische Parallele gefunden hat: So wenig wie der Zeitzeuge als geschichtsmächtige Figur im eigentlichen Sinne erst nach 1945 »geboren« wurde, so wenig wurde die Zeitgeschichte als wissenschaftliche Disziplin damals erst »erfunden«. Und doch steckt in beiden Behauptungen mehr als nur ein Körnchen Salz. Denn die Schrecken des Zweiten Weltkriegs bilden die entscheidende Zäsur, die - zumal in Deutschland - zur Entwicklung einer selbstkritischen Zeitgeschichtsschreibung führte und in deren Kontext auch der Zeitzeuge und das Prinzip der Zeugenschaft gleichsam neu begründet wurde.
Inzwischen scheint der Zeitzeuge dem Historiker in der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sogar den Rang abgelaufen zu haben, und die Zukunft einer Zeitgeschichtsschreibung nach dem Ende der Zeitzeugenschaft stellt sich manchen Beobachtern als Krise der Geschichtsschreibung dar. Wie es aber zu dieser erstaunlichen Karriere des Zeitzeugen kam, mit welchen Zuschreibungen er auf diesem Weg ausgestattet und welchen Zumutungen er ausgesetzt wurde, diskutieren die in diesem Band versammelten Beiträge ...
Mit Blick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gehen sie den Formen der historischen Zeugenschaft in einzelnen Nationalkulturen nach, und sie untersuchen die sich verändernde Selbstwahrnehmung von Opfern, die sich als Zeitzeugen begreifen. Sie thematisieren den Zeitzeugen als Medienfigur und verfolgen seinen Aufstieg zu einem machvollen Erinnerungsakteur. Sie diskutieren schließlich das Verhältnis von Zeitgeschichte und Zeitzeugenschaft und fragen danach, ob dem vielschichtigen Phänomen der Zeitzeugenschaft im »Zeitalter der Extreme« ein von der Geschichtsschreibung nicht einholbarer Überschuss an Bedeutung innewohnt.
Aus dem Vorwort des von Martin Sabrow und Norbert Frei herausgegebenen Bandes »Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945« (Wallstein, 376 S., geb., 34,90 €).
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.