I can't get no
50 Jahre Rolling Stones
Keine geistige Idee von sich zu haben, dies aber mit unverschämt aggressiver Pose zu präsentieren, immer weiter, immer wieder, immer arroganter, immer triebbezogener, das ist Mick Jagger. Immer perfekter auf jenem dünnen Grat, wo die heißeste mit der kältesten Temperatur eine Liaison eingeht, die das Brennen nicht mehr vom Frieren unterscheiden kann - das sind, das waren, das bleiben die Stones.
Beschissen an John Lennon, so der Kopf der Stones, sei dessen Missachtung von Karl Marx gewesen. Jagger selber hat Wirtschaft studiert, der Marktmechanismus war ihm näher als Lennons Irrtum, »sich mit Jesus zu vergleichen«. Ein später Hieb der bösen Ironie gegen alles, was Botschaft sein will. In »Street Fighting Man« nannte Jagger das Singen in einer Rockband einen Rettungsweg für jeden armen Jungen auf den teuren, glitschigen, harten Straßen Britanniens. Gemeint war das wörtlich, nicht als Metapher. »I Can't Get No Satisfaction«, »You Can't Always Get What You Want«, »Honky Tonk Woman«: Den Stones ging es vom ersten Album 1964 an stets ums Reelle, um den Körper zum Beispiel, den gejagten, gestressten, gepeitschten, überforderten, zitternden, strotzenden, trotzenden, den triumphal am Erfolgssog leidenden Körper - nie jedoch ging es um einen transformativen Drang. »Ich bin der Sänger«, hat Jagger mal gesagt, »nicht der Song.«
»Angie«: Wie da eine zehrend melancholische, aber aufgekratzt bleibende Stimme eine Schönheit anbetet und schier zerkaut! Die Stones feierten das Unkorrekte in der menschlichen Natur, man geriet bei ihnen in einen Wirbel des Einverständnisses mit allem Unkorrekten. Sie haben in ihrem Werk stets daran erinnert, dass es zwischen den Geschlechtern etwas unwiderlegbar Dschungelhaftes und Kriegerisches gibt. Jagger, dieses Maul, dieser Mundvierkant, er machte plausibel, was das heißt: »Sympathy for the Devil«.
Einen seiner schönsten Momente hatte Jagger, als er 1976 »Hey, Negrita« sang: weiblich, männlich, in aufreizender Pose, ein drittes Geschlecht, schönheitsbesessen, als wolle er Nabokov zum Weiterschreiben der »Lolita« animieren. Die Stones waren Marathonläufer, wo die Beatles im Kunstturnen quasi die Musik neu erfanden. Nie wären die Stones auf die Idee gekommen, sich etwa am geliebten Blues weltbesinnend aufzurichten (es gab nichts Messianisches an ihnen, außer ihrer Liebe zu John Lee Hooker). Sie schossen einfach nur giergeile Viren des Unverblümten, Schmutzigen, Überdosierten in die Leiber ihres Publikums, Punkt! Und ihre Jahrhundertgröße bestand in der Kraft, mit der sie das Echo aushielten - und weiter schossen.
»Time Is On My Side«: Wir müssen keiner Generation die Flagge sein. Und: Wir beanspruchen keine Unschuld, für uns gilt: »Under the Tumb« - wir haben die Welt unterm Daumen. Anders gesagt: Sieh zu, wie du gut ins Reine kommst mit dem, was du kannst; und ehe du die Welt veränderst, wäre es vielleicht angeraten, sie erst mal ein wenig auszunutzen.
Im Dezember 1969 geschah der Mord an Meredith Hunter, im nordkalifornischen Altamont, auf dem Gelände der stillgelegten Autorennbahn, bei einem Gratiskonzert der 300 000, bei dem die berüchtigten »Hells Angels« als Ordner agieren durften. Der Mord geschieht, Jagger begreift die Situation (ein Film hat es dokumentiert) - die Stones singen und spielen weiter. Ein abstoßend cooles Meisterstück aus Frost und dollarschnappender Herzschnauzigkeit? Oder aber das verblüffend menschliche Meisterstück der Beruhigung und Vulkandämpfung? Jagger als ein großer Abenteurer der Nerven.
Wie sagen Parteien stets so lügnerisch? Sie gingen aus Niederlagen gestärkt hervor. Bei den Stones traf es zu. Wenig Schuld damals, aber viel Schande - und doch ein immens großer Schub Sympathie für die Band. Und für ihren Leadsänger, der endlich zu seinem legendären Bild gefunden hatte: androgyn, souverän, mit Lust einen Reichtum auskostend, an dem ihn nicht eine Sekunde lang störte, dass er ihn einem Publikum verdankte, das er im Spuckreiz gegen just jenes Establishment bestätigte und kitzelte, darin die Band selber ihre Orgien feierte.
Mick Jagger - das ist Fleisch, das sich siegesgewiss um den 1. Preis für die eisenhärteste Rüstung bewarb. »Er hatte nie Drogenprobleme, er hatte nie einen Nervenzusammenbruch, nichts berührte ihn wirklich. Er lebt vom Strom seiner Fans, aber er ist dennoch an einen Stromkreis angeschlossen, zu dem nur er den Stecker besitzt.« So die einstige Geliebte Marianne Faithfull - die hinzufügte: »Er war nie der Löwe, den man vermutete, aber von der Kraft dieser Stones lebt quasi die Sehnsucht aller Raubtiere, als kräftig und eisern zu gelten.«
»Baggars Banquet«, »Let It Bleed«, »Sticky Fingers«, »Exile on Main Street« - die Stones nahmen gigantische Alben auf; sie sangen, wie andere zuschlagen; sie kamen dann, Mitte der Siebziger, ins Trudeln (Gitarrist Brian Jones war schon tot), sie verdurchschnittlichten in der obligaten Diskophase, wuchteten sich in große Tourneen, die doch nur das Elend kaschierten. Ach, ja, Brian Jones! Die Harmonika-Parts in »Lady Jane« und »Little Red Rooster« sind, wie sein Slide-Gitarrenspiel, bleibende Stones-Klassik.
Eine Zeitlang schien es tatsächlich, als sterbe die Band und einzig Keith Richards, dieses Gitarristenkrokodil, dieses Lebenswundmal, dieser Verausgabungsriese, dieser Asozial-Herkules und Raubbaumeister werde, mitten im Rausch, als Musikergenie die Truppe überleben. Ausgerechnet er. Richards überlebte, ja Die anderen aber auch. Mick Jagger hat besonders überlebt. Seine gotteslästerliche Frechheit besteht darin, dass er, fast siebzig, noch immer wie einer wirkt, der das oberste Berufsgebot verletzte. Denn wer im Rock-Kosmos Stil hat, der stirbt gefälligst früh, der verzehrt sich in kurzer, aber exzessiver Existenz. Jagger aber sang und sang, und er hüpft und hüpft. Und er grinst, röhrend. Hechelt wollüstig.
Brecht hatte schon recht: Geld macht sinnlich - Jaggers Sinnlichkeit war und ist die Sinnlichkeit jener berühmten Zigarette danach. Bei welcher, im kühlen Fensterwind, noch kühler der nächste Orgasmus der nächstbesten Gelegenheit gedacht und geplant wird.
Die Stones sind alt. Knittrig, fossil-ledern, natürlich auch lächerlich in ihrer Sturheit von Präsenz. Jagger mit dem Markenzeichen des durchgedrückten Kreuzes, ein Ausdruckswillen zwischen Oscar Wilde im Körper und Arthur Rimbaud im Gemüt. Keith Richards: Rockgitarrenklasse offenbar aus Seelenhöllen gesogen, denen schon ein Dante seine Qualgesichter abschaute; seit über dreißig Jahren trägt er um den Hals jenen Totenkopf-Ring, den ihm eine Freundin schenkte, weil sie durch Keith' Gesicht früh »das Grinsen des Todes sah«; drei Hunde hatte dieser räudige Kerl in seinem Leben, sie hießen Rasputin, Ratbag und Syphilis. Sein Stirnband erinnert an einen Sioux, der sich auf den Eintritt in die ewigen Jagdgründe vorbereitet. Ein Millionengeschäft, diese ewigen Jagdgründe, wer tritt da freiwillig ab.
Glimmer-Twins, so bezeichnen sich Jagger und Richards noch heute, sie kennen sich aus Kindergartentagen. »Rolling Stones«: Der Name wurde inspiriert durch einen Song von Muddy Waters; der rollende Stein ist nach einem englischen Sprichwort einer, der kein Moos ansetzt. Die Stones sind pures Moos. Manche Menschen sterben spuckend, diese Steine sterben spielend. Bei Untermalung durch schneidende, ungeschliffene Gitarrenriffs und dumpf pulsierende Rhythmen. Bill Wyman und Charlie Watts bilden diese Rhythmus-Abteilung, Ron Wood ist der grinsende Schrat.
»Mick Jagger, Rhythm-and-Blues-Sänger, kommt morgen abend (Donnerstag) mit einer neuen Gruppe in den Marquee Club. Die Gruppe heißt Rolling Stones.« So wird es vermeldet am 11. Juli 1962 in London. Dieser Tag später, ein Donnerstag, heute vor 50 Jahren, war das Geburtsdatum einer Genialität.
Wenn ich an die Stones denke, denke ich an Reinhold Messner, an Werner Herzog, an Einar Schleef, an Jim Morrison, an Thomas Brasch, an so viele (und doch so wenige), die mit extremer Entschiedenheit, mit Schweiß und Schindluder, mit Brachiallust und Besessenheit jedes Gnadenangebot zur Mäßigung ablehn(t)en.
Der Schreiber dieser Zeilen war damals, jugendlich, in jenem unausweichlichen Zwei-Fronten-Check zwischen Beatles und Stones, sehr ausdauernd den Vieren aus Liverpool zugetan, den Melodiösen und Ästheten - aber dann ... Im Laufe der Jahre wuchs das Staunen über die Grazie des Unsauberen, wuchs Nähe zur Gediegenheitsverachtung, zur genießerischen Hässlichkeit der Stones-Monster. Straßenköter in goldenen Käfigen. Das instinktive Bedürfnis nach Unehre. Die herausgestreckte Zunge als Band-Ausweis. Beat, gesponsert inzwischen von Betablockern. Na und?
Alles mitgenommen, alles durchgenommen, alles hergenommen, alles hochgerissen, alles runtergerissen, alles verlangt, alles erlangt, but no Satisfaction. Was kann man mehr erwarten vom Leben ...
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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