Das Dilemma der Intelligenzija
Ljudmila Ulitzkja über Dissidenten, Denunzianten und ein System, das über sich selbst gestolpert ist
»Ihr müsst lernen,« sagt ein KGB-General zu seinen Töchtern, denn »gebildete Menschen haben ein interessanteres Leben als ungebildete«. Das ist etwa in der Mitte dieses dicken Romans, und wir haben schon eine ganze Reihe solcher gebildeter Menschen kennengelernt, die das Interessante suchen. Erstaunlich, wie sich ihre Wege kreuzen, davon lebt ja das Buch. Aber das kommt nicht nur aus dem literarischen Vorsatz der Autorin, das liegt in den Seltsamkeiten der sowjetischen Realität begründet.
Zum Beispiel brachte jener General (aus »der obersten Liga - bei der Auslandsaufklärung«) für seine beeindruckende Hausbibliothek auch Bände »von der Arbeit mit«. In russischer Sprache, aber »im Ausland gedruckt«. »Tamisdat« nannte man das. Seine Tochter Ira konnte sich damit unter ihren Kommilitonen an der Philologischen Fakultät beliebt machen. Da ist die Studentin Olga, Tochter eines Armeegenerals und einer Funktionärin im Schriftstellerverband (die beim Ausschluss Pasternaks den Vorsitz führte und ihre Herkunft aus einer Popenfamilie verheimlichte, wie man später erfährt), von der Lektüre Berdjajews, Chodassewitschs, Nabokovs dermaßen mitgerissen, dass sich ihr Weltbild ändert. Die anerzogene Prinzipienfestigkeit richtet sie fortan auf andere Ziele. Durch ihre Herkunft furchtlos, engagiert sie sich für einen verhafteten Dozenten, der im Westen unter Pseudonym veröffentlichte. Von da an ist es nur ein Schritt, dass sie sich mit ihrem Freund und späteren Ehemann Ilja bald selbst mit der Vervielfältigung verbotener Bücher befasst: mit »Samisdat«.
Und diese Tätigkeit findet im selben Haus statt, in dem ihr Vater, der General, seinem Hobby nachgeht: der Restaurierung alter Möbel. Dass er bis zu seinem Tode noch heimlich seine ehemalige Sekretärin besuchte, eine Jüdin, die er nicht vor dem Lager bewahrte, verwundert angesichts der vielen Verwicklungen in diesem Buch schon nicht mehr. Und wie Ilja durch den KGB angeworben wird, gehört zu den beeindruckendsten Szenen.
Was für Schicksale, was für Leidenschaften im Strudel der Geschichte! Aber nein, es ist eben nicht nur ein »Strudel«, nicht nur eine fremde Gewalt. Ljudmila Ulitzkaja gräbt tief - bis zu den Wurzeln der russischen »Intelligenzija«, zu der sie schließlich selbst gehört. Und es kommt einem beim Lesen der seltsame Gedanke, dass Geheimdienste weltweit nicht von ungefähr das Wort »Intelligence« in ihrem Namen tragen, nur dass Intelligenz in ihrem Fall vornehmlich Staatszwecken dient. Dagegen bezog die russische »Intelligenzija« ihren Zauber daraus, sich als überstaatliche Macht zu verstehen, als Gewissen der Nation, ja der ganzen Welt.
Daraus erwuchs ein idealistisches Avantgardebewusstsein, das mit der Forderung nach unbedingter moralischer Integrität, mit Selbstlosigkeit und einem geradezu heiligen Ernst gekoppelt war. Was mit der russischen Adelsintelligenz des 19. Jahrhunderts begann, reicht fast noch bis in die Gegenwart. Fast, denn der Nimbus jener kulturell aktiven Geisteselite verblasst, wenn Kunst für die Öffentlichkeit zum Spektakel werden muss und Prestige, wie in Russland heute, zunehmend mit materiellem Erfolg verbunden wird. Insofern kann man Ljudmila Ulitzkajas Roman als Abgesang lesen - auf einen Lebensstil und ein Kunstverständnis, das völlig anders als das im Westen herrschende ist.
In der DDR haben wir einen Abglanz davon mitbekommen. Es war ja wirklich ein Glanz, der kritische Intellektuelle in der Öffentlichkeit umgab. Dabei wollten sie zumeist nicht weniger, aber auch nicht mehr als das: politische Meinungsfreiheit und Abschaffung von Zensur. Wobei sie - das war die Besonderheit - im anderen deutschen Staat leicht Veröffentlichungsmöglichkeiten fanden. Mit dem Ende der politischen Repression kam die Entzauberung. Die Möglichkeit, sich ohne Angst zu äußern, setzt ungeahnte schöpferische Potenzen frei. Eine Unmenge von Energie, die zu versickern oder zu verpuffen scheint, während früher ein Winziges davon genügte, um Menschen in Bewegung zu bringen. Darin unterscheiden sich offene und geschlossene Gesellschaften, dass erstere politische Gegnerschaft gut verkraften können. Die wirkliche Macht ist kaum angreifbar.
Von heute aus könnte man sich vielleicht fragen, warum die Mächtigen im sowjetischen Imperium bezüglich der Kunst einen solchen Verfolgungswahn pflegten. Warum waren sie dermaßen empfindlich gegenüber dieser »Samisdat«-Literatur, von der die Massen doch wenig erreicht wurden? Hätten sie nicht souveräner sein können, was westliche Medien und die dissidentischen Bewegungen im eigenen Land betrifft? Die Frage ist naiv. Es war ein anderes Gesellschaftssystem. Überbaulastig und letztlich basisschwach. Zentralistisch regiert, deshalb sehr störanfällig. Und zur tatsächlichen Bedrohung kam die Angst davor.
Die sozialistischen Staaten mit der UdSSR an der Spitze haben sich totgerüstet - und den Kalten Krieg verloren. In den Mustern dieses Kampfes befangen, hatten ihre Machthaber zudem dermaßen mit ideologischer Verteidigung zu tun, dass sie jenes Feld aus den Augen verloren, wo die entscheidende Auseinandersetzung stattfand und wo sie letztlich gescheitert sind.
Wenn die Produktionsverhältnisse die Produktivkräfte hemmen ... Man wusste auswendig, was in diesem Fall geschieht. Nur hat man es eben nicht auf das eigene System bezogen. Und manch einer denkt vielleicht gar heute noch, allein die kapitalistischen Feinde hätten den Sozialismus zu Fall gebracht. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die Moskauer Obrigkeit war mit allem möglichen beschäftigt, mit Aufrüstung nach außen und nach innen, dass es mitunter scheint, das Politbüro habe sich mehr Sorgen um aufrührerische Autoren gemacht als um die miserable Versorgung der Menschen in den Weiten des Landes.
Diese Weiten kommen bei Ljudmila Ulitzkaja nur in einem Kapitel vor, als Boris Muratow, der wegen seiner antisowjetischen Karikaturen in ausländischen Zeitungen mit Verhaftung rechnen muss, in einem Weiler aus fünf Häusern bei verarmten Adligen unterkommt. Die pflanzen und ernten für ihren Bedarf. »Ihr lebt irgendwie ganz antisowjetisch«, meint Muratow. »Nein, Boris, nur am sowjetischen Leben vorbei.« Dieses »Vorbeileben« gab es massenhaft. Wer um seine tägliche Existenz kämpfen musste, den interessierte der Staat nicht, der wollte bloß unbehelligt bleiben. Die Macht und die Massen - die Fremdheit war eine gegenseitige.
Dagegen lag die Intelligenzija ständig mit der Macht im Clinch und war dadurch - wider Willen - mit dieser verbunden. Beides abgehobene Kreise, die sich - insgeheim - nicht selten überlappten. In dieses Gemenge taucht Ljudmila Ulitzkaja ein. Mit eigener Erfahrung, hatte sie doch selbst im Zusammenhang mit der Verbreitung verbotener Literatur ihren Arbeitsplatz als Naturwissenschaftlerin verloren und war wie zwangsläufig ins dissidentische Künstlermilieu gerutscht. Sie durfte nicht mehr als Genetikerin arbeiten und ist eine großartige Schriftstellerin geworden, die schon in früheren Werken durch genaue Milieustudien, feine Beobachtungsgabe und überlegenen Humor beeindruckte.
Aber ihr neuer Roman, »Das grüne Zelt«, ist die Krönung. Ein Gesellschaftspanorama von 1951 bis 1996, ein Puzzle aus zahlreichen Schicksalen, die nicht chronologisch erzählt werden, sondern in ihren Verknüpfungen zu einem riesigen Bildteppich wachsen. Da ist auch vom jüdischen Leben in der Sowjetunion die Rede, von Zionisten und Antizionisten, von der Vertreibung der Krimtataren, von Lagern und psychiatrischen Kliniken, die eigentlich Haftanstalten waren, von Etablierten und Aussteigern, von ausländischen »Freunden«, von Liebe mit allem Drum und Dran. Keiner ist ganz und gar böse oder gut. Zufälle immer wieder. Der Tollste: dass die Abschrift von »Archipel Gulag« bei einer Haussuchung nicht gefunden wurde, weil eine junge Frau damit unwissentlich ihre Stiefel ausgestopft hatte.
Alles beginnt damit, dass ein kriegsversehrter Literaturlehrer eine Moskauer Schulklasse begeistert. Drei Freunde - Ilja aus armen Verhältnissen, der seine Leidenschaft fürs Fotografien entdeckt, Micha aus einer jüdischen Familie, der von Kind an Gedichte schreibt, und der musikbegeisterte Sanja mit adligem Hintergrund - lernen von diesem Lehrer, das Wort Literatur sozusagen in Versalien auszusprechen. »Man musste sich aus seiner Zeit befreien, sich von ihr lösen, durfte sich nicht von ihr verschlingen lassen.« Literatur sei »das Einzige, was dem Menschen hilft, zu überleben, sich mit seiner Zeit zu versöhnen«.
Versöhnung mit den einzelnen Menschen, aber mit dem Prinzip Willkür nicht. »Ein Staat mit einer Geistesstörung«, sagt Ljudmila Ulitzkaja. Er nimmt sich das absolute Recht gegen seine Bürger heraus, sie von einem Tag auf den anderen zu verhaften, einzusperren, gar zu töten, wenn sie abweichende Meinungen haben. Und er verlangt von ihnen sogar, dies gut zu heißen. Stalinismus sagen wir - aber die Wurzeln gehen tiefer, reichen weiter. »Das ist doch erstaunlich am sowjetischen Leben - oder am russischen? - man weiß nie, von wem man denunziert wird und von wem man Hilfe angeboten kriegt, die Rollen wechseln blitzartig. Findest du nicht auch?«, fragt Micha. Aber irgendwann wird er mit seiner Kraft am Ende sein.
Ein grünes Zelt hat Iljas Frau Olga (inzwischen verlassen und krank) im Traum gesehen. Und davor eine lange Schlange aus Lebenden und Toten. »Das Paradies«, flüstert ihre Freundin Tatjana, Biologin, vom jüdischen zum christlichen Glauben konvertiert. Das grüne Zelt, in dem alle vereint sind - Dissidenten und Denunzianten, Freigeistler und Funktionäre, Bekannte und Unbekannte. Mit diesem Bild hat sich Ljudmila Ulitzkaja ihren Frieden gemacht. Zurück bleibt Erleichterung, gemischt mit Trauer. Etwas, das man so keinesfalls wiederhaben möchte, geht zu Ende. Und mit dem langsamen Gewinn an Freiheit versinkt auch manches, was einst bedeutsam war.
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