Der Wirt Butterblume
ZUR SEELE: Erkundungen mit Schmidbauer
Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf scheinbar »gleiche« seelische Belastungen. Sexueller Missbrauch führt einmal in ein von Angst und Scham gezeichnetes Leben, ein anderes Mal scheint er eine normale Entwicklung nicht zu beeinträchtigen. Ein Opfer wird von quälenden Erinnerungen heimgesucht und findet nie in ein normales Familienleben, ein anderes entwickelt sich unbeeinträchtigt und erinnert sich erst an das Trauma, als es darüber in der Zeitung liest – ach ja, ich war auch einmal in diesem Internat, diesen Erzieher kenne ich, der ist auch zu mir ins Bett gekommen, widerlich das, ich hatte es vergessen!
Angesichts einer körperlichen Verletzung orientiert sich der Organismus daran, möglichst schnell seine Funktionsfähigkeit zurückzugewinnen. Die körperlichen Prozesse richten sich eindeutig auf Wiederherstellung. Zellfunktionen, Hormonproduktion, Immunreaktionen kooperieren zu diesem Zweck. Der Körper braucht Ruhe.
Aus seelischen Wunden aber will das erlebende Ich eine Lehre ziehen. Es fühlt sich aufgerufen, eine Wiederholung zu vermeiden. Daher wird die seelische Wunde nicht wie die körperliche möglichst bald durch gesundes Gewebe ersetzt. Seelische Wunden werden offen gehalten. Ihre Bedeutung darf sich nicht verbrauchen, ehe nicht genügend Sicherheit zurück gewonnen ist.
Ein gut mit inneren und äußeren Sicherheiten versorgtes Kind wird seelische Verletzungen ganz anders verarbeiten können als ein bereits verängstigtes, das besonders viel Halt und Zärtlichkeit braucht.
Auch in Liebesbeziehungen gibt es traumatische Momente. Ein Paar, seit acht Jahren verheiratet. Die Frau erbt ein kleines Vermögen und gibt es ihrem Mann, der schon lange davon träumt, sich mit einer Konzertagentur selbstständig zu machen. Nach zwei Jahren ist das Geld weg, die Agentur ist pleite, der Ehemann arbeitet wieder als Angestellter. Zu allem Pech scheint er auch noch jedes erotische Interesse verloren zu haben.
»Wir sind gesund, sind jung, wir können doch unser Leben genießen, auch wenn wir das Geld verloren haben«, sagt die Frau. »Ich muss erst wieder zu mir selbst finden und das alles verarbeiten« sagt der Mann düster. »Ich kann an nichts anderes denken. Ich will mich nicht ablenken, ich muss herausfinden, was da geschehen ist.«
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Frau eine kindliche Position einnimmt, Spaß haben will, während der verantwortungsbewusste Mann gegen sie den Ernst des Lebens vertritt. In Wahrheit aber will er an dem Kinderglauben festhalten, dass in seinem Leben alles glatt gehen müsste. Und seine Partnerin vertritt demgegenüber die ebenso triviale wie rettende Weisheit, den flüchtigen Augenblick zu genießen.
Was an vernünftiger Analyse der Pleite irgend möglich ist, hat er längst zu Ende durchdacht. Aber sie hätte einfach nicht passieren dürfen! Vielleicht, wenn er lange genug grübelt, stellt sich heraus, dass es sie gar nicht gibt!
Der Ehemann ist in seiner Größenfantasie erschüttert. Er hat das Geld seiner Liebsten nicht vermehrt, wie er fest glaubte, sondern es verloren und ihr so geschadet. Entsprechend vernichtet fühlt er sich selbst und erliegt der Täuschung vieler Depressiver: »Wenn es mir besser geht, kann ich auch wieder aktiv werden!« Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn ich wieder aktiv werde, geht es mir auch besser.
In jedem von uns steckt etwas von dem Wirt Butterblume, der in Tolkiens Geschichte über den Herrn der Ringe ein Gasthaus an der Grenze zwischen dem Land der Hobbits und dem der Menschen betreibt. Er ist so vergesslich, dass er seinen eigenen Namen nicht wüsste, wenn ihn nicht seine Gäste ständig rufen würden.
Butterblume ist ein Symbol für unser narzisstisch bedürftiges Ich, das sich selbst nicht mehr gut genug finden kann, wenn ihm das nicht ständig von außen gesagt wird. Ohne Bestätigung durch Erfolg und Liebe sitzen wir da wie der arme Wirt, der auf einmal nicht mehr weiß, wie er heißt und was er soll.
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