Blick zurück in die Zukunft
Pädagogen diskutieren über Vorzüge und Nachteile des Schul- und Bildungssystems der DDR
Wer sich als junger Mensch heute über die DDR-Schule informieren möchte, der stößt in der Literatur unweigerlich auf Begriffe wie »Fahnenappell«, »Staatsbürgerkunde«, »FDJ-Schuljahr«, »Wehrertüchtigung«. Und das ist kein Zufall. Denn wie die DDR als Ganzes soll auch das DDR-Bildungssystem als etwas beschrieben werden, was von Anfang bis Ende eine Fehlkonstruktion war.
Gleich eingangs will ich bekennen, dass auch ich die DDR-Schule besucht habe. Mit großem Gewinn, wie ich hinzufügen möchte, wenngleich nicht immer mit Begeisterung. Aber das lag nicht an irgendwelchen Pressionen, sondern schlicht daran, dass Schule für Kinder eben auch mühsame geistige Arbeit bedeutet.
Doch nicht darum soll es hier gehen, sondern um einen Aufbruch in der Schulpolitik, der in der deutschen Geschichte ohne Beispiel ist. Anders nämlich als in Westdeutschland, wo nach dem Zweiten Weltkrieg auch personell das tradierte elitäre Schulsystem reorganisiert wurde, ging man im Osten daran, die Bildungsprivilegien der begüterten Schichten zu brechen. Bereits im Oktober 1945 regten KPD und SPD gemeinsam eine »Demokratisierung des Schulwesens« an, deren vorrangiges Ziel es war, der Jugend eine hohe Bildung zu vermitteln und allen Befähigten »ohne Rücksicht auf Herkunft, Stellung und Vermögen der Eltern« den Besuch einer Fach- oder Hochschule zu ermöglichen. Was zunächst utopisch anmutete, wurde zu einem historisch einzigartigen Erfolg, wie die Autoren des kürzlich erschienenen Buches »Bildung, Pädagogik, Gesellschaft« großenteils aus eigener Erfahrung berichten. Man denke nur an die zahllosen Neulehrer, die unbelastet waren von jeglicher Nazi-Vergangenheit und häufig schon 1945 in den ostdeutschen Schuldienst traten. Dort trugen sie maßgeblich dazu bei, dass bis 1959 das rückständige Landschulwesen, die Einklassenschule sowie der Mehrklassenunterricht abgeschafft werden konnten. Und während im Westen eine gute Bildung käuflich war (und immer noch käuflich ist), musste in der DDR bis zuletzt niemand für den Schulbesuch Geld bezahlen. Manch anderer Vorzug erschließt sich hingegen erst mit Blick auf die heutigen Verhältnisse. So konnte in der DDR kein Kind durch das voyeuristische Vorzeigen irgendwelcher Markenartikel seine soziale Überlegenheit demonstrieren. Und da alle Schüler gemeinsam bis zur achten Klasse lernten, blieb ihnen auch das entwürdigende Erlebnis erspart, bereits mit zehn Jahren als intellektuell nicht mehr entwicklungsfähig abgestempelt zu werden.
Wer heute eine gerechte Schule organisieren will, wäre also gut beraten, dabei die positiven Erfahrungen des DDR-Schulsystems zu berücksichtigen. Das heißt aber nicht, die Schattenseiten zu verschweigen, wie dies leider einige Autoren des Buches tun. Bei ihnen wird die DDR-Schule als nahezu ideologiefreier Raum geschildert. Diesen aber hat so nie existiert. Im Gegenteil: Die parteioffizielle Ideologie war eine tragende Säule des DDR-Schulsystems. So wurden zum Beispiel unter Berufung darauf große Teile des (spät-)bürgerlichen kulturellen Erbes einfach mit dem Etikett »fortschrittsfeindlich« versehen und aus dem Unterricht verbannt. Gleiches traf auf Personen zu, die in der Geschichte nicht in das lineare Erfolgsmodell passten, als dessen vorübergehende Vollendung der reale Sozialismus galt. Schon gar nicht war das Fach Staatsbürgerkunde ein Ort des freien und fehlertoleranten Dialogs, der Schüler hätte ermutigen können, mehr Kreativität zu wagen. In einem der bemerkenswertesten Aufsätze des Buches findet der Autor Werner Kienitz deshalb recht deutliche Worte über die Schwächen der DDR-Schule. Diese habe sich »in Richtung einer Schule der Gleichförmigkeit« entwickelt, schreibt er, wobei individuelle Vielfalt eher als Störgröße betrachtet worden sei. Wer jetzt vielleicht glaubt, hier urteile jemand aus Unkenntnis oder gar aus »unberufenem Mund«, irrt. Kienitz arbeitete bis 1990 als Professor an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR und war 20 Jahre lang Chefredakteur der Zeitschrift »Vergleichende Pädagogik«.
Übrigens: Dass in der DDR auch Talente gezielt gefördert wurden, vorzugsweise an sogenannten Spezialschulen, ist kein Gegenargument. Vielmehr zeigt sich hier ein weiteres Mal, dass die DDR-Schule besser war als ihr Ruf, wenngleich damit die von Kienitz geäußerte Kritik nicht gegenstandslos wird. Wer diese dagegen nur als »Rufschädigung« abtut, macht es sich zu einfach und bestärkt heutige Bildungspolitiker in ihrem Vorurteil, dass die meisten Diskussionen über die DDR-Schule ohnehin »nostalgisch verklärt« seien.
Zu Recht verweisen die Autoren des Buches darauf, dass etwa im Fach Deutsch ebenso wie in den Fächern Mathematik, Physik, Chemie und Biologie die DDR-Schule international konkurrenzfähig war. Hier wurde den Schülern ein sehr anspruchsvoller Lehrstoff vermittelt, der häufig sogar über das hinausging, was zur gleichen Zeit an BRD-Schulen unterrichtet wurde. Tatsächlich stand bereits 1970 in einer westdeutschen Fachzeitschrift zu lesen, dass der präzisierte DDR-Lehrplan für Deutsche Sprache und Literatur »seinesgleichen in der bisherigen Geschichte des Deutschunterrichts« suche. Und das war nicht abwertend, sondern anerkennend gemeint.
Dennoch: Eine souveräne Aufarbeitung der DDR-Schulpädagogik ist nur dann möglich, wenn sich daran auch die einst aktiven Lehrer und Erziehungswissenschaftler offen und selbstkritisch beteiligen. Immerhin geht es um nichts Geringeres als darum, die sozial-pädagogischen Erfahrungen aus DDR-Schulzeiten für die Ausbildung kommender Schülergenerationen nutzbar zu machen. Hierzu leistet das Buch – trotz mancher unkritischen Darstellung des Vergangenen – einen wichtigen Beitrag. Hinzu kommt, dass einige Autoren auch Konzepte für ein neues Schulsystem entwickeln, das nicht die von PISA festgestellte soziale Schieflage erzeugt, unter der vor allem Kinder aus ärmeren Familien leiden. Stichwort Gemeinschaftsschule. Zwar wäre es verfehlt, hier das DDR-Schulmodell einfach zu kopieren, meint Kienitz. Aber als »Rohling für einen so orientierten Neuansatz« sei es bestens geeignet.
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