Das Wunder der Resilienz
Nach Schlaganfall und Locked-In-Syndrom zurück in ein selbstständiges Leben
Markus Taibon, Jahrgang 1965, wuchs auf in den Dolomiten, auf einem Bauernhof. Wurde Lehrer, liebte und praktizierte Sportarten wie Fallschirmspringen. Eines Tages im Februar 2008 ließ er seine Schüler eine Arbeit über ein Werk von Hermann Hesse schreiben. Plötzlich, in dieser ruhigen Unterrichtsstunde, erlitt er einen Schlaganfall. Eine der Folgen: ein Ponsinsult, Verletzungen in einem Teil des Stammhirns und damit Ausfall einer Gehirnregion. Auch als Locked-In-Syndrom bekannt. Das Drama der Betroffenen besteht darin, dass sie zwar bei Bewusstsein, aber körperlich fast vollständig gelähmt sind. Vor allem: Sie können sich weder sprachlich noch motorisch verständlich machen.
Taibons Schüler alarmierten sofort den Rettungsdienst, der Schlaganfall wurde als solcher erkannt und eine Lyse-Therapie eingeleitet, das störende Blutgerinnsel so medikamentös aufgelöst. Fünf Tage lag der Lehrer im Koma. Nach einer Woche konnte er die Augen wieder bewegen. Nach drei Monaten ließ er sich seine Medikamentenliste erklären. Die stationäre Behandlung dauerte insgesamt zehn Monate.
Taibon hat über seinen Weg in ein selbstständiges Leben ein kleines, reflektierendes Büchlein unter dem Titel »Reifeprüfung« geschrieben und es in einem winzigen, österreichischen Verlag herausgegeben. Darüber hinaus reist er in eigener Sache und erzählt von Hindernissen und Aha-Erlebnissen seiner Therapie - und motiviert damit andere, auch Locked-In-Patienten, wie in diesem Frühsommer in Berlin.
Sicher hat der heute 47-Jährige auch Glück gehabt, mit Ärzten und Therapeuten, das räumt er selbst ein. Da war der Neurologe, der schon in der Akutphase nach dem Schlaganfall das Locked-In-Syndrom erkannte, da waren Therapeuten, die den richtigen Anstoß gaben. Ein Opernsänger-Freund, mit dem er seine Stimme zurück- oder überhaupt erst richtig gewinnen konnte, in mühseliger monatelanger Übung - nachdem Mediziner diese Problematik schon abgeschrieben hatten.
Aber das ist es nicht allein. Dass er gehen und sprechen kann, dass er Auto fährt und viele andere Dinge tun kann wie vor dem Schlaganfall, das hat er sich erkämpft. Talbon vergisst nicht die Hilfe seiner Familie, die »verbindlich und bedingungslos« kam. Die Brüder, die dafür im Wechsel Hunderte Kilometer angereist sind, auch Nachbarn und einzelne Freundinnen und Freunde mit ihren Beiträgen.
Besonders wichtig für den Patienten Taibon aber war die eigene Haltung, das eigene Verständnis von dem, was ihm passierte. In seinem Berliner Vortrag hob er das hervor: »Die Frage ist nicht: Warum gerade ich? Die Frage ist: Wozu ist das eine Gelegenheit?« Denn allein letzteres machte ihn handlungsfähig und ließ Offenheit zu. Auf die erste Frage gibt es nur Mitleid. Jede Antwort auf die zweite Frage fordert ihn heraus: »Diese Initialzündung in mir selbst war am wichtigsten.«
Taibon musste lernen, anstrengend für andere zu sein, als er wieder zu Hause war - noch mehr als zuvor im Krankenhaus. Er spürt der Kommunikation mit den Gesunden nach, die mitunter im Vergleich mit ihm, dem Schwerkranken, ihr Ego stärken. In seinem Buch beschreibt er dies auf eine feine, weder verletzende noch beleidigende Art. Einige Monate nimmt er auch die Hilfe von Antidepressiva in Anspruch, die er später eigenständig wieder absetzt.
Ein gutes Maß an Leistungswillen und Ungeduld führte ihn bisher Schritt für Schritt zurück in ein unabhängiges Leben. Vergleichbar mit einem Ausdauertraining, sagt der Sportler in ihm, der auch von Rückschlägen weiß. Die für viele überraschende Gesundung des in Österreich lebenden Lehrers illustriert, wie Resilienz im guten Fall funktionieren kann. Das Wort meint in der technischen Welt, wie ein System trotz äußerer Störungen weiter funktionieren kann. Über die Psychologie gelangte der Begriff in die Nähe der Medizin und kann für die Ressourcen verwendet werden, die Menschen zur Bewältigung einer schweren Krankheit mobilisieren. Markus Taibon will 2013 wieder als Lehrer arbeiten. Klar ist ihm auch: Die Rehabilitation seiner linken Hand wird weitere Jahre dauern.
Markus Taibon: Reifeprüfung. Mein Weg aus dem Locked-In-Syndrom zurück ins Leben. W.F.Schlager Scharnstein, Österreich 2010, 120 S., 15 €.
Eingeschlossen
Beim seltenen Locked-In-Syndrom, auch als Eingeschlossensein bezeichnet, sind Menschen nahezu vollständig gelähmt, aber bei vollem Bewusstsein und intaktem Hörsinn. Oft können sie nur noch die Augen vertikal bewegen und nutzen das zur Kommunikation mit der Außenwelt. In einigen Fällen können Computer dies unterstützen. Ursache können Hirntraumata oder Schlaganfälle sein. ott
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!