Europa in Karlsruhe
Vom Urteil des obersten deutschen Gerichts zum ESM hängt die demokratische Verfassung Europas ab
Es ist die am meisten unterstützte Verfassungsbeschwerde, die je in der Geschichte der Bundesrepublik eingelegt wurde. Mehr als 37 000 Bürgerinnen und Bürger wehren sich gerichtlich gegen die Verträge zum Euro-Rettungsschirm ESM und Fiskalpakt. Sie drücken eine verbreitete Stimmung der Bundesbürger aus, die in der Mehrheit hoffen, dass Karlsruhe die Gesetze stoppt. Es ist zugleich ein Misstrauensvotum gegenüber der Politik, die die nötigen Beitrittsgesetze im Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit beschlossen hat.
Neben dem Verein »Mehr Demokratie«, der die Bürgerklage initiiert hat, sind auch der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler, eine konservative Professorengruppe um den Juristen Karl Albrecht Schachtschneider und die Bundestagsfraktion der LINKEN Ende Juni vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Heute entscheidet sich, ob die Gesetze nun in Kraft treten dürfen oder ob Bundespräsident Joachim Gauck mit seiner Unterschrift das Hauptsacheverfahren abwarten muss.
Ohne Deutschland liegen ESM und Fiskalpakt in Europa auf Eis. Aus aller Welt sind deshalb heute die Augen auf Karlsruhe gerichtet. Anders als die Bundesregierung, die alle Fragen der Eurorettung in Windeseile durchs Parlament peitschte, ließen sich die Richter demonstrativ viel Zeit für ihre juristische Prüfung. Normalerweise entscheidet Karlsruhe Eilanträge innerhalb von drei Wochen. Diesmal jedoch fand sogar eine mündliche Verhandlung über die Eilanträge statt und Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle bat sich etwas mehr Zeit als üblich aus, um schon einmal im Groben in die inhaltliche Prüfung einsteigen zu können. Denn ergeht die einstweilige Anordnung nicht, können die Euro-Gesetze sofort in Kraft treten. Aus Sicht der Kläger würden damit unumkehrbare Fakten geschaffen. Die Verträge seien völkerrechtlich bindend, eine wie auch immer geartete Entscheidung im Hauptsacheverfahren wäre mithin obsolet.
Inhaltlich geht es darum, ob durch den Rettungsschirm zentrale Fragen der Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik dem Bundestag entzogen werden und dieser damit zu einer inhaltslosen Hülle wird, wie die Kläger argumentieren. Sie sehen sein Haushaltsrecht, gern »Königsrecht« genannt, durch die Euro-Verträge ausgehöhlt. Das sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
Deutschland haftet mit bis zu 190 Milliarden Euro für Kredite, die der ESM, der als eine internationale Finanzinstitution mit Sitz in Luxemburg geplant ist, an EU-Krisenstaaten vergeben darf. Sollten andere Euro-Mitglieder als Garantiegeber für diese Kredite ausfallen, kann sich der Anteil Deutschlands deutlich erhöhen. Für den ESM sei keinerlei Kontrolle durch Parlamente oder Justiz vorgesehen, monieren die Kläger. Von Haftungsrisiken, die die Steuereinnahmen des Bundes übersteigen könnten, ist die Rede. Auf der europäischen Ebene fehlt es sowohl den Parlamentariern als auch den Bürgern an Einflussmöglichkeiten, um diesen immensen Verlust an Mitentscheidungsrechten auf nationaler Ebene zu kompensieren. Bei der mündlichen Verhandlung im Juni zielten viele Fragen der Richter darauf, ob und wie sich sicherstellen lässt, dass das finanzielle Risiko für Deutschland nicht unkontrolliert über die 190 Milliarden Euro hinausschießt, die der Bundestag genehmigt hat.
Die Kläger sind vorsichtig bei ihrer Einschätzung, ob ihnen das Gericht folgen wird. Denn die Erfahrung mit früheren Entscheidungen von strittigen Fragen im Zusammenhang mit der europäischen Integration zeigen, dass die Verfassungshüter die Gesetze passieren ließen, allerdings Bedingungen stellten. So war es beim Lissabon-Vertrag und auch beim ersten Rettungsschirm. Vor allem versuchten sie, die demokratische Kontrolle durch den Bundestag herzustellen.
Entscheidend wird daher sein, ob die Vorabprüfung auch bei den Verfassungshütern den Eindruck hinterlassen hat, dass sich mit den neuen Euro-Verträgen die Europäische Union zu einem Bundesstaat wandeln würde. Ob damit wirklich die »rote Linie« überschritten wäre, die der zweite Senat in seinem Lissabon-Urteil gezogen hat. Denn der Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat wäre mit dem Grundgesetz nicht zu machen und müsste extra legitimiert werden. Im letzten Artikel 146 sieht das Grundgesetz für diesen Fall eine Volksabstimmung vor. Alle Kläger fordern, dass mehr Europa entweder durch eine neue Verfassung oder eine Ergänzung des Grundgesetzes demokratisch abzusichern sei.
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