Angriff auf die Gegenwart
Jürgen Kuttner über Pseudo-Politik, schlaue Schlager und Michael Frayns Theaterstück »Demokratie«
nd: Nach Peter Hacks' »Die Sorgen und die Macht« und »Capitalista, Baby!« nach Ayn Rand inszenieren Sie jetzt mit Tom Kühnel am DT »Demokratie« von Michael Frayn. Das Stück eines Briten über Willy Brandt und die Guillaume-Affäre - warum gerade das?
Kuttner: Dass wir bei Frayn hängengeblieben sind, war in gewisser Weise Zufall. Ich habe in Hannover die »Kolleteral-Schlager« gemacht, einen riesigen Drei-Stunden-Abend. Da klopfe ich Schlager auf ihre verborgenen Bedeutungen ab. Auch bei den »Videoschnipseln« habe ich so was gemacht: Die Jacob Sisters singen 1973 in Teheran vor der Schah-Familie »Blowing in the Wind«. Das war so ein Ausschnitt, den ich unmittelbar nach dem 11. September 2001 gesehen hatte und dabei dachte: Wenn man dieses Video genau ansieht, dann kapiert man doch, was das für ein Clash ist!
Und durch diese »Kollateral-Schlager« …
… sind wir auf die Idee gekommen, mal einen deutsche politische Geschichte entlang von Schlagern zu erzählen. Die allererste Idee, nicht meine, war: RAF. Ich dachte: Nein, nicht RAF, das ist doch langweilig. Also habe ich überlegt: Was ist denn so ein großes deutsches, politisches Ding? Der Guillaume-Skandal.
Kannten Sie da schon Frayns Stück?
Tom hatte das vorher schon mal ins Gespräch gebracht. Ich hatte darin gelesen und dachte, das kann man doch nicht einfach so als Theater machen. Das ist so britisch: Da stehen immer acht Leute am Rand und ballern Informationen runter. Also hab ich gesagt: Lass uns das doch so machen wie Alain Resnais in seinem Film »Das Leben ist ein Chanson« - überall Schlager rein oder Songs. In gewisser Weise ist das Stück erst mal egal gewesen, weil mir die formale Idee solchen Spaß gemacht hat: Wie erzählt man so eine Geschichte und unterfüttert das mit Songs, die irgendwie fremd sind oder cool oder toll oder seltsam?
Das Stück war egal?
Nein, nein - dann doch nicht. Es gibt Breloers klischeebeladenes Doku-Drama zu dieser Geschichte, dann gibt es diesen Spielfilm mit dem Brandt-Sohn Matthias als Guillaume, drei Stunden - eigentlich ist das alles ausgeleuchtet. Beim Arbeiten haben wir dann aber gemerkt, dass das überhaupt nicht so ist. Was daran eben doch noch interessant ist: dass damals noch Politik gemacht wurde. Die haben diese Ostpolitik gemacht, die Verständigung mit den Russen, mit Warschau, mit der DDR, und sind dabei über sehr dünnes Eis gegangen. Die Angriffe auf Brandt hat man alle vergessen. Heute heißt es überall: Willy Brandt, wie Marlene: schon immer einer von uns gewesen! Dufte Figur! Strahlemann! - das war ja so nicht. Die haben ihm in die Eier getreten, wo sie nur konnten: die Vertriebenenverbände, die CDU, die CSU, Strauß, der BND, die ganzen Armleuchter. Da hat einer, und erstaunlicherweise ein Sozialdemokrat, wirklich Politik macht. Da sagst du: Das wäre doch heute nötig!
Was wird heute gemacht?
Pseudo-Politik, lächerlich. Da sitzen Fachleute, die so tun, als ob es um rein sachliche Entscheidungen ginge, um Probleme, die sich mit einem quasi-naturwissenschaftlichen Herangehen lösen ließen. Auf der anderen Seite dann aber die Extremideologisierung: der Markt! Eine dunkle Gestalt, die am Horizont lauert. Der müssen wir jetzt Gaben darbringen, um sie gütig zu stimmen. Man ist wirklich 2000 Jahre zurückversetzt! Mich würde es nicht wundern, wenn die demnächst anfangen, Ochsen zu schlachten, um den Markt zu besänftigen. Das ist so irrational, so idiotisch.
Behauptete Naturgesetzlichkeit und Götzenverehrung - das sind doch zwei verschiedene Dinge.
Das geht aber Hand in Hand und ist in gewisser Weise ununterscheidbar. Stimmen tut beides nicht. Mit solcher Rhetorik drückt man sich bloß um politische Entscheidungen. Um echte Politik zu machen, müsste man doch sagen: Wir leben in einer Gesellschaft, die ist so und so strukturiert; wir wollen aber in einer Gesellschaft leben, die so und so aussieht. Welche Entscheidungen muss man treffen, um da hinzukommen?
In der Zeit, in der das Stück handelt, war das anders?
Da ging es immer um Politik, der man zustimmen oder der man widersprechen konnte. Insofern hat das für mich eine bestürzende Aktualität, obwohl es so historisch aussieht. Ich finde diesen Filmtitel von Alexander Kluge so gut: »Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit«. Unser Stück ist der Versuch, mit der Vergangenheit die Gegenwart anzugreifen.
Im Saisonheft des Theaters heißt es, »Demokratie« hole »den Widerstreit der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts auf die Bühne«. Nachdem Sie mit Hacks und Rand die kommunistische und die ultraliberale Ideologie für sich sprechen lassen haben, nun also die Konfrontation?
Vorher haben wir die Himmelsrichtungen in ihren Extremen ausgeleuchtet, jetzt stoßen sie aufeinander. Aber wenn man sich in diesen ganzen Guillaume-Stoff ein bisschen einliest, merkt man nach einer Weile, dass die Fronten da nicht so klar gezogen sind. Es geht eben nicht nur um ein Entweder-Oder. Guillaumes langer Weg ins Kanzleramt begann ja schon in den fünfziger Jahren. Da treffen sich verschiedene Seiten auf eine äußerst vielschichtige und widersprüchliche Weise. Wir versuchen, das schärfer herauszuarbeiten.
In Ihren Arbeiten spielt das 20. Jahrhundert immer wieder eine große Rolle, es gab eine Hitler- und eine Lenin-Revue ...
Es ist dieser Kluge-Satz, der mich so bedrängt. Diese permanente Gegenwart, die so tut, als wäre es niemals anders gewesen und würde immer so bleiben. Diese unglaubliche Geschichtslosigkeit spiegelt sich darin, dass es auch keinerlei Begriff von Zukunft gibt. Wenn man nur die Erinnerung daran hätte, dass irgendetwas mal anders war, dann hätte man vielleicht eine Ahnung davon, dass es auch anders sein könnte. Nein, es herrscht die Ahnung: Wir leben in der besten möglichen Zeit. Alles, was noch kommt, kann nur schlimmer werden.
Das ist das praktizierte »Ende der Geschichte«.
Genau. Das ist das »Ende der Geschichte« im Kopf. Der Kopf wird in den Sand gesteckt aus Angst, dass es nur noch schlimmer werden kann.
Mit welchen Gefühlen und Gedanken soll das Publikum den Saal verlassen?
Es wäre vermessen, sich da Illusionen zu machen. Wenn man zwanzig Leute im vollen Haus erreicht, dann ist viel geschafft. Ich habe nicht allzu große Hoffnung, was die Wirksamkeit von Theater betrifft. Trotzdem kann ich das immer nur mit diesem kleinen bisschen Hoffnung machen.
Jonathan Meese hat jüngst eine Brandrede gegen die Demokratie gehalten: Sie sei ein »Gefangenenlager«. Stattdessen fordert er die »Diktatur der Kunst«.
Da ist was dran. Der Begriff Demokratie gehört zu den absolut unhinterfragten Begriffen. Demokratie ist per se gut: Wenn überall Demokratie wäre, dann wäre alles toll. Keiner fragt mehr, was das denn heißen soll: Demokratie, und was da im Einzelnen wirklich dahintersteckt. So gesehen, ist die Demokratie wirklich ein Transmissionsriemen, mit dem der ganze Mist hier am Laufen gehalten wird. Alle glauben: Oh, das ist demokratisch, also muss es auch gut sein. Die Zuspitzung davon sieht man gerade in diesem Ami-Wahlkampf. Da wird eine Milliarde in irgendwelche debilen Fernsehdinger reingepumpt.
Politik und Schlager, da wird beides identisch.
Momentan nimmt man das in Deutschland noch als befremdlich wahr, aber in fünfzehn Jahren wird es diesen Abstand nicht mehr geben. Dann wird es hier ähnlich zugehen, und keiner wird sich mehr daran erinnern, dass mal irgendwelche langweiligen Politiker irgendwelche Sachpositionen gegeneinander vertreten haben - ohne Lightshow, dräuende Musik und einen debilen Moderator, der das dann in Kindersprache übersetzt.
Politik als Show. Sie machen das Gegenteil: Show als Politik. Schlager als Begleitmusik zur Weltpolitik, Musik statt Monologe ...
… nicht »statt«, sondern immer mal so eingestreut. Dass man einfach denkt: Boa, kiek mal, wat ham se denn da jefunden. Super! Toll! Stimmt!
Geht es darum, die Atmosphäre der Zeit wachzurufen?
Das auch. Nicht nur, aber das spielt schon auch eine Rolle.
Und was noch?
Es gibt diesen Satz von Heiner Müller: »Der Text ist klüger als der Autor«. Das gilt für viele Schlager auch, dass da mehr drin steckt, als man am Anfang hört. Ein Beispiel, das im Stück gar nicht vorkommt: Dieser Song »Beiß nicht gleich in jeden Apfel« von Wencke Myhre, der stammt genau aus dem Jahr 1966, als die SPD und die CDU zum ersten Mal eine große Koalition eingegangen sind. Wenn du den unter diesem Gesichtspunkt hörst: »Beiß nicht gleich in jeden Apfel, er könnte sauer sein, denn auf rote Apfelbäckchen fällt man leicht herein« - also im Grunde ist das ein Warnlied für die CDU.
Diese Assoziationen hat Wencke Myhre sicher nicht gehabt.
Nee, die hat die natürlich nicht gehabt. Kunstfortschreibungen sind ja oft Missverständnisse und Überinterpretationen. Aber man staunt dann, wie das trotzdem so parallel läuft. Gunter Gabriels »Hey Boss, ich brauch mehr Geld« kam genau, als Kluncker die 11 Prozent Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst durchgesetzt hat, genau dasselbe Jahr! Da gibt's ganz subkutane Verbindungslinien oder zumindest die Vermutung, dass es die geben könnte. Oder eben auch Zufälle. Aber ein guter Zufall ist doch allemal besser als eine schlechte Notwendigkeit.
JÜRGEN KUTTNER, 1958 in Ost-Berlin geboren, Kulturwissenschaftler, Radiomoderator, Theaterregisseur, kommentierender Pfadfinder durch den Dschungel aus Kulturgut und Zeitgeschichte. 1990 Gründung der Ost-»taz«, 1993 bis 2007 »Sprechfunk« auf Radio Fritz, im TV: »Null Uhr Kuttner« u.a., »Videoschnipsel« an der Berliner Volksbühne, Regisseur und Schauspieler in diversen Theaterproduktionen. Jetzt gemeinsam mit Tom Kühnel Inszenierung des Michael-Frayn-Stücks »Demokratie« am Deutschen Theater Berlin, Premiere: am Freitag.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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