Ein Geschenk des Westens an den Osten?

1989 und die Rolle der Gewalt - nicht nur beim Umbruch in der DDR

  • Günter Benser
  • Lesedauer: 3 Min.

Mit dem weitgehend gewaltfreien Abtreten der kommunistisch regierten Regime Europas, in deren Selbstverständnis Machtgewinnung und Machterhaltung den Schlüssel zur Lösung jeglicher Probleme darstellten, hatte wahrlich niemand gerechnet. Den Ursachen dieses Phänomens gehen 17 Autoren nach, von denen sich zehn vorwiegend mit den Vorgängen in der DDR und sieben mit den Ereignissen in Osteuropa befassen. Die meisten Beiträge zur deutschen Entwicklung greifen Teilaspekte auf oder untersuchen regionale Fallbeispiele. Das geschieht auf einer soliden Quellenbasis und überwiegend mit einleuchtenden oder zumindest bedenkenswerten Argumenten.

Eine zusammenfassende Interpretation bietet Martin Sabrow in seinem einleitenden Aufsatz. Er setzt sich mit verschiedenen gängigen Erklärungsmuster auseinander und kommt zu dem Schluss, dass nach »strukturellen Ursachen« zu suchen sei, »die tiefer greifen als die Klischees einer desorientierten SED-Gerontologie, eines gemeinschaftlichen Anti-Chaos-Paktes oder einer verweigerten Moskauer Panzerunterstützung«. Er stellt dem einen Komplex von Ursachen gegenüber. Dazu gehören in seinem Verständnis eine durch »Sprachlosigkeit« charakterisierte Lähmung der SED-Führung, die Option für Gewaltlosigkeit als Abgrenzungsmerkmal der Widersacher Honeckers in der engeren Parteiführung, das Unterlaufen des Einsatzes von Polizei, Staatssicherheit und Armee durch die Bürgerbewegung mit der Losung »Keine Gewalt!« unter Inanspruchnahme eines kirchlichen Schutzraums. Vor allem aber habe »eine säkulare Abkehr von Gewalt« stattgefunden, »die das Zeitalter nach 1945 von der Gewaltfixierung vor 1945« unterscheide. Letzteres führt Sabrow auf eine von der westlichen Welt ausgehende politisch-kulturelle Werteverschiebung und eine hier praktizierte Enthaltsamkeit beim Einsatz von Gewalt zurück.

Wenn auf diese Weise die dominierende Gewaltlosigkeit des Umbruchs wie ein Geschenk des Westens an den Osten erscheint, ist Widerspruch in mehrerer Hinsicht angesagt. Erstens bleibt abzuwarten, wie sich westliche Regime verhalten, wenn sie einmal mit tatsächlich systemgefährdenden Massenprotesten konfrontiert werden sollten. Zweitens reduziert Sabrow - wie mehr oder weniger alle Autoren dieses Sammelbandes - Gewalt auf Repression nach innen. Der Ausgang der Auseinandersetzung der beiden Weltsysteme ist indes wesentlich auf dem Felde des Wettrüstens und mit Stellvertreterkriegen entschieden worden, wobei Einsatz oder Androhung von Gewalt massiv im Spiele waren. Bis heute ist von der unterstellten »Zivilisierung der westlichen Welt« wenig zu bemerken, wenn die Gewalt nach außen gerichtet wird - zur Behauptung oder Gewinnung geostrategischer Einflusszonen, des Zugriffs auf Ressourcen, als Einmischung in Bürgerkriege und ethnische Auseinandersetzungen oder bei der Abwehr von Flüchtlingsströmen. Gleichwohl - der rationale Kern von Sabrows These soll nicht verkannt werden.

Die deutsche Öffentlichkeit ist heute mehr denn je gegen Gewaltanwendung nach innen sensibilisiert und stellt deren Legimität häufiger in Frage. Aber resultierte das in der DDR primär aus westlichen Einflüssen? Waren nicht das Gespür für die Gesellschaftskrise und damit die Erfahrungen von 1953, 1956, 1968 und 1980 unten wie oben präsent? Entsprangen die Motive gewaltlosen Vorgehens nicht wesentlich sozialistischen Werten? Der von Rosa Luxemburg verkündeten »Freiheit der Andersdenkenden«, dem Verlangen nach einem »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«? Und war es nicht Merkmal der vergleichsweise egalitären DDR-Gesellschaft, dass sich die Angehörigen bewaffneter Organe und protestierende Demonstranten nicht unversöhnlich gegenüberstanden? Solchen Fragen wird in einzelnen Beiträgen durchaus sachkundig und mehr oder weniger ausgewogen nachgegangen.

Wer allerdings erwartet hatte, dass wir im dritten Jahrzehnt deutscher Einheit auch etwas über jene bundesdeutschen Aktivitäten erfahren, die sich hinter den Kulissen abgespielt haben, wird enttäuscht. Was wiederum niemanden verwundern sollte.

Martin Sabrow (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt. Wallstein Verlag, Göttingen. 428 S., geb., 34,90 €.

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