Die vier Schornsteine des Kraftwerks Vockerode sollen fallen. Damit wird nicht nur ein einzigartiges Denkmal beschädigt, sondern auch ein Symbol für sachsen-anhaltische Identität zerstört, meint eine Bürgerinitiative und macht Dampf.
Mittags rauschte Klaus Bebber durch die Zeitschleife. Als die stählerne Birne in das Mauerwerk zu Füßen des Schornstein-Riesen donnerte, stieg 140 Meter weiter oben eine dünne Aschewolke aus dem Schlot und wurde vom Wind zerstreut. »Es sah aus, als würde Kessel fünf wieder angefahren«, sagt Bebber abends im Sommergarten von »Günters Oase«. Seine 50 Zuhörer scheinen von ihren Erinnerungen davongetragen zu werden wie die weiße Asche vom Sommerwind. Im Gestern aber haben die Vockeröder lange genug festgesteckt, meint Bebber. Er hat seine alten Kollegen zusammengetrommelt, um eine Bürgerinitiative zu gründen. Gekämpft wird für die Schornsteine des Kraftwerks, zu deren Füßen die meisten von ihnen ihr Leben verbracht haben und die, wenn kein Wunder geschieht, bald gesprengt werden. Es geht darum, dass »unser Ort kein Trümmerdorf wird«. Es geht, sagt Bebber, der allzu viel Emotionen eigentlich vermeiden wollte, »um unsere Identität«.

Das Vockeröder Kraftwerk ist eines der markantesten Industriebauwerke Deutschlands. Millionen Reisende auf der Autobahn A9 kennen die Silhouette des Energieriesen an der Elbe nahe Dessau. Wie klassizistische Säulen schießen die Schornsteine über der Halle aus braunen Klinkern auf. »Das Kraftwerk liegt da wie ein Ozeandampfer«, schwärmt der Landschaftsarchitekt Harald Kegler: »Ein Ensemble, bei dem alle Proportionen stimmen.« Zu bestaunen ist es schon von weither: Das Kraftwerk wurde an einer Stelle errichtet, an der sich die Fluchtlinien der Autobahntrassen aus Berlin und aus München treffen. Das sind, sagt Kegler, »schöne Sichtachsen«. Sichtachsen, also zufällige Blickbeziehungen entlang von Wegen und Baumschneisen, haben in dieser Gegend schon die Gärtner von LeopoldIII. Friedrich Franz fasziniert. Der Dessauer Fürst, hier liebevoll »Vater Franz« genannt, ließ im ausgehenden 18. Jahrhundert das Dessau-Wörlitzer Gartenreich anlegen. Die Parklandschaft beginnt gleich hinter dem Kraftwerk und Bebbers Garten - und sie wird, sagen einige der heute Verantwortlichen, durch die Betonschlote gestört. Kaum war das Kraftwerk daher im Oktober 1994 abgeschaltet, wurde der Abriss der Schornsteine gefordert. Der Industriebau, wurde befürchtet, verhindere eine Aufnahme der Parklandschaft in das Unesco-Weltkulturerbe. Die Angst ist passé. Seit einem Jahr steht der Park auf der Unesco-Liste. Doch das Argument wird weiter strapaziert. Es bestehe ein »Spannungsfeld« zwischen dem Park und dem vor fünf Jahren ebenfalls unter Denkmalschutz gestellten Kraftwerk, heißt es in der dürren, 14-zeiligen Erklärung, mit der das Hallenser Regierungspräsidium am 22. Juni die Zustimmung zur Sprengung gab. »Natürlich besteht ein Spannungsfeld«, sagt Kegler. Aber »mit Abriss lösen wir keine Probleme der Geschichte«, ergänzt er und schimpft über »Museumswärter, die eine heile Welt des 18. Jahrhunderts wieder herstellen wollen«. Wenn das gewollt sei, kontert er, müsse auch die Autobahn abgerissen werden, die das Gartenreich zerschneidet. Kegler hat als Bauhausmitarbeiter seit 1989 Konzepte für ein »industrielles Gartenreich« zwischen Wittenberg, Dessau und Bitterfeld entworfen. Er plädiert dafür, das Kraftwerk und andere Relikte der Industrialisierung zu erhalten, die gemeinsam mit Auenwäldern und Parks das Bild dieser Region bestimmen. Die Expo 2000, die Tausende Besucher in die Gegend lockte, setzte erfolgreich auf diesen Kontrast. »Vockerode ist eine Herausforderung für unsere Fähigkeit, ein mächtiges Industrieobjekt in eine Landschaft einzupassen, die auf die Natur Rücksicht nimmt«, sagt Kegler. Lohn und Brot hat Bebber im Kraftwerk 38 Jahre lang gefunden, zuletzt als Angestellter der Vereinigten Energiewerke AG (VEAG), dem heutigen Kraftwerkseigentümer. Losgelassen hat ihn der Betrieb nie. Als er mit 55 aufs Altenteil geschickt wurde, schrieb er ein Buch über Vockerode, später drehte er einen 40-minütigen Film. Dann kamen die Landesausstellungen, die 1998 und 1999 in der imposanten und für Millionenbeträge teilweise sanierten Maschinenhalle des Kraftwerks präsentiert wurden. Bebber wurde Ausstellungsführer. Die Gästebücher hat er aufgehoben. Sie bestätigen die Einschätzung, die Ministerpräsident Reinhard Höppner auf einer Veranstaltung im Dezember 2000 traf, bei der er auch Bebber für sein Engagement auszeichnete. Einerseits, sagte Höppner, hätte die Schau »die Identifikation der hier lebenden Menschen mit ihrer Heimat« gefördert. Andererseits werde »auswärtigen Besuchern ein wichtiges Stück Geschichte einer der historisch bedeutendsten Industrieregionen Deutschlands präsentiert«. Dass die Landesregierung jetzt trotzdem den Abriss unterstützt, bringt die Gäste in »Günters Oase« besonders in Rage - zumal die Ex-Kraftwerker, anders als die VEAG-Experten, annehmen, dass bei der Sprengung auch die Halle beschädigt und der vierschlötige Ozeandampfer im Gartenreich vollständig versenkt wird. »Das wird wie beim Kraftwerk Vetschau«, das seit der Sprengung der Essen »wie ein unlackierter Sarg« herumsteht, warnt Bebbers Kollege Walter Ebenhan. »Damit wäre ein Stück Heimat dahin«, sagt Pfarrer Thomas Pfennigsdorf. Ein Besucher aus dem Ruhrgebiet mahnt: »Wir wären heute froh, wenn wir unsere Schornsteine erhalten hätten.« Schwere Breitseiten von der Dampferbesatzung muss vor allem das Kultusministerium einstecken. Dort habe man gegen die störenden Schornsteine gewettert, statt die Bemühungen der VEAG um die Immobilie zu unterstützen. Das Stromunternehmen hatte sich seit der Stilllegung des Kraftwerks um eine Nachnutzung bemüht, Machbarkeitsstudien für 600 000 Mark in Auftrag gegeben und Investoren geworben. 14 »ernstzunehmende Anfragen« habe es gegeben. Darunter soll eine holländische Entertainment-Firma gewesen sein, die von der werbeträchtigen Silhouette schlicht fasziniert war. Dass die Interessenten schließlich absprangen, lag laut VEAG meist an der schieren Größe des Objekts. Nach Keglers Ansicht fehlte aber auch der Rückhalt aus Magdeburg: »Es ist geradezu kurios, dass sich hier ein Privateigentümer um ein Denkmal bemüht, während die öffentliche Hand abblockt.« Das Kultusministerium sieht für eine weitere Nutzung des Kraftwerks als Kulturstätte »keine Perspektive«, sagte Torsten Klieme, Büroleiter von Minister Gerd Harms. Daher habe das Landesamt für Denkmalschutz dem Abriss zugestimmt, und »das Kultusministerium trägt das mit«. Zum einen verweist man noch immer auf die problematische Lage am Rand des Gartenreichs, das als Denkmal »bedeutender« sei. Zudem seien die Landesausstellungen Zuschussgeschäfte gewesen. Rechnen würde sich ein Betrieb nur, wenn eine »teure Infrastruktur« errichtet und dauerhafter Betrieb garantiert würde. Vorher komme auf die Betreiber jedoch ein »unermesslich hoher Unterhaltungsaufwand« für die Schornsteine zu, sagt Klieme. Die VEAG spricht von 3,2 Millionen Mark, die wegen auslaufender Sondergenehmigungen zur Flugwarnbefeuerung und zur Sicherung der Standfestigkeit aufgewendet werden müssten. Für den Abriss wurden 1,6 Millionen zurückgestellt. Der Vorstand habe gemeinsam mit der Landesregierung nach Möglichkeiten gesucht, das fehlende Geld aufzubringen - vergebens. Aus »sicherheits- und wirtschaftlichen Gründen« habe sich der VEAG-Vorstand daher am 27. Februar »entschieden, den Rückbau der Schornsteine 1 bis 4 des Dampfkraftwerkes Vockerode vorzunehmen«, sagte Sprecherin Regina Kordes. Ein fataler Entschluss, meint Andreas Barth. Der Berliner Student hat eine Diplomarbeit über das Kraftwerk geschrieben und sich auch Gedanken über eine Zukunft für »einen der wichtigsten Industriebauten Deutschlands« gemacht. Dieser passe hervorragend in die wirtschaftliche Strategie der Region, die überwiegend auf den Tourismus setzt: »Ihr braucht dieses Kraftwerk, um Leute aus den Großstädten anziehen zu können.« Das sieht Kegler ähnlich. Er schwärmt von einem »Entrée« in das Gartenreich, in dem Umwelterziehung ebenso wie Unterhaltung für Kinder geboten werden könne: »Für die gibt es doch sonst nichts Langweiligeres als den Park.« Dass die Schlote nicht wenige Touristen überhaupt erst in die Region ziehen, kann Bebber bestätigen: »Nach der Kraftwerkstour habe ich die Leute in den Wörlitzer Park geschickt«, sagt der einstige Ausstellungsführer: »Da haben manche gefragt, was das ist.« Den alten Kraftwerkern geht es um mehr als um vier Relikte ihrer Vergangenheit. »Die Zukunft soll zerstört werden«, ist ihr Protestbrief überschrieben. Darin wird auf den beinahe grotesken Umstand aufmerksam gemacht, dass Sachsen-Anhalt im Jahr 2003 mit dem Motto »Land der Technik« werben will. Das technische Flaggschiff, wettern die Vockeröder, wird dann auf Grund liegen. Denn schon dröhnt die Abrissbirne. »Die Entscheidung ist gefallen, die Rückbaufirma hat von der VEAG den Auftrag erhalten, die Gutachter sind bestellt und die Großraumgeräte sind in Aktion«, sagt VEAG-Sprecherin Kordes. Ob die Bürgerinitiative oder die Protestbriefe namhafter Wissenschaftler das Ende der Schornsteine verhindern können, ist daher höchst ungewiss. Bepper plädiert für ein Moratorium, während dessen Dauer »noch einmal alle Ideen auf den Tisch gelegt« werden sollen. Kegler könnte sich vorstellen, die für den Abriss vorgesehenen Gelder in eine Stiftung »Industriekultur Sachsen-Anhalt« einzubringen. Er will die Landesregierung zu einem Zeichen bewegen. Gelegenheit böte ein Auftritt von Ministerpräsident Höppner am 21. September auf dem Deutschen Architektentag in Leipzig. Er referiert dort darüber, »Was Politik gestalten muss«. Datum und Thema könnten pikanter nicht sein. Tags darauf soll in Vockerode die erste Sprengladung gezündet werden.