Die Sänger der Partei

Vom Veteranen-Ensemble der SED zum eingetragenen Verein: 30 Jahre Ernst Busch Chor

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 9 Min.
Irgendwann Anfang der 70er Jahre muss im großen Saal des Kulturhauses Berlin-Karlshorst die Zeit stehen geblieben sein. Als wäre hinter der gläsernen Eingangstür der Lauf der Dinge abgeschaltet worden. Einfach so. Klack. In den Ritzen des abgelaufenen Fischgrätenparketts hat sich Geschichte festgesetzt wie in einem Museum. Ausgerechnet hier trifft sich der ehemalige Parteiveteranenchor der SED zu seinen Proben. Dreißig Jahre später. Es könnte keinen besseren Ort geben. »Nicht wegbrechen«, ruft Kurt Hartke von der Bühne. Zum »Viva la Musica« lässt der künstlerische Leiter bedeutungsvoll die Arme kreisen. Der Ernst-Busch-Chor, wie sich das Ensemble der ehemaligen Parteiarbeiter inzwischen nennt, ist mit dem Einsingen zur Probe beschäftigt: Rechts das kleine Häuflein der Tenöre und Bässe. Links die vielen Sopran- und Altstimmen. Die Laien-Sänger sind mehrheitlich jenseits der 70 und nehmen ihr Hobby ernst. »So, und nun noch einmal für jene, die es immer noch nicht können«, bittet Hartke mit Nachdruck. In ein paar Tagen feiert der Chor Geburtstag. Bis dahin muss das Programm sitzen. Die Geschichte des Chors beginnt im Frühjahr 1973 - mit einem Rüffel der SED-Bezirksleitung Berlin. Der Liedermacher Reinhold Andert, dessen Kritik die Partei ein paar Jahre später nicht mehr aushalten wollte, so dass sie ihn rauswarf und nicht mehr arbeiten ließ, war in diesen Tagen mit der Vorbereitung der Weltfestspiele der Jugend und Studenten beschäftigt. Andert reiste herum, überredete Autoren zu neuen Songs und ließ Soziologen darüber befinden, wie die Musik bei der Jugend ankommt. Neue Lieder wollte die Partei - um sich in neuem Licht zu sonnen. Er, erinnert sich die Ikone der DDR-Singebewegung heute, habe dann eines Tages wohl bemerkt, dass man darüber die alten Lieder fast vergessen hätte. Da erzählte ihm Emmy Dölling, die Frau des damaligen Chefs des Erich-Weinert-Ensembles der DDR-Armee NVA, von einer Reise nach Moskau: Bei einem Betriebsbesuch in der sowjetischen Hauptstadt sei man von Männern und Frauen, die die Oktoberrevolution nicht nur aus Geschichtsbüchern kannten, mit Arbeiterliedern empfangen worden. Das wäre doch eine gute Sache. Wenig später warf Andert bei einer Veranstaltung am Vorabend des Festival des politischen Liedes vor Arbeiter- und Parteiveteranen ganz nebenbei die Frage auf, ob man nicht ein ähnliches Ensemble langgedienter Genossen gründen solle. Schließlich kannten die Alten ihre Lieder immer noch am Besten. Das Publikum war begeistert, und Tags darauf liefen vor lauter Anfragen die Telefone der SED-Bezirksleitung heiß: »Wann geht es los mit dem Chor?« Die Partei aber zeigte sich zunächst weniger erfreut. Vorschläge dieser Art hatten, wenn sie schon nicht von dort kamen, schließlich mit den Bezirksoberen abgesprochen zu sein. Später trug man Andert zu, die eilig begonnene Organisation des Ensembles habe die Kulturabteilung in der Berliner SED-Zentrale für ganze zwei Wochen lahm gelegt. Ein guter Anfang. Erika Baier ist seit dem ersten Tag dabei. Aufgewachsen in Bremen zu einer Zeit, in der Radio- oder Fernsehen noch Fremdworte waren, sang die kleine Erika am liebsten das Lied von der Blume Männertreu. Später wurden die Texte dann politischer, und der Weg führte Erika Baier nicht nur in verschiedene Chöre, sondern auch in die SED. Irgendwann im Frühjahr des Jahres 1973 nahm ein Weggefährte aus Tagen der Antifa-Jugendgruppen die zierliche Frau auf einer Familienfeier beiseite. »Erika, da wird ein Chor gegründet. Singst du mit?« Wenn sich die Bremerin heute an diesen Tag erinnert, muss sie lachen. »Ich war doch schon damals Rentnerin und Großmutter. Was sollte ich in einem Chor?« Erika Baier war dann aber doch unter den 50 Interessierten, die sich am 18. April 1973 in der Oranienburger Straße »einfach mal zum Singen treffen wollten«. Drei Monate später stand das Ensemble zum ersten Mal auf einer öffentlichen Bühne - bei einer Veranstaltung zum Auftakt der Weltfestspiele der Jugend. Gesungen wurden die alten Lieder. Es waren nicht einfach nur Lieder aus einer alten Zeit. Für viele Ensemble-Mitglieder der ersten Jahre war es auch ein Stück Biografie, die im Chor ihre Fortsetzung fand. Der erste Chorleiter, Walter Riedel, war Musiklehrer an der Leipziger Arbeiter-Turn- und Sportschule und in den 20er Jahren in der Agitprop-Bewegung aktiv. Nach 1933 verschleppten ihn die Nazis in Zuchthäuser und Konzentrationslager. Nach dem Krieg machte sich Riedel trotz angeschlagener Gesundheit sofort wieder an die Arbeit, schrieb neue Stücke. Die ihn gekannt haben, erzählen noch heute, wie er später, als 71-Jähriger, mit großer Freude die Leitung des Chores übernahm. Die DDR-Spitze sah solche Begeisterung gern. Schließlich wollte die SED »mit dem Wort der Partei jeden erreichen« und die »Traditionen der Arbeiterbewegung« fortsetzen. Natürlich nur die guten. Viele der einstigen Kampfgefährten brauchte man dazu nicht zu überreden. Chöre gab es allerorten und gesungen wurde viel... An einem Namen kam man dabei nicht vorbei: Ernst Busch. Der Mann mit der markigen Stimme war der Inbegriff des Arbeiterliedes, seine Interpretationen von Erich Weinerts »Roter Wedding« oder »Der heimliche Aufmarsch« sind so etwas wie die Hits der alten Genossen gewesen - auch nach 1945. »Es freut mich zu wissen, dass Du unsere ollen Klamotten alle wieder singst«, schrieb ihm Helene Weigel im Nachkriegsjahr aus Santa Monica. Ein viertel Jahrhundert danach taten es ihm die Parteiveteranen gleich. Als Busch 1980 verstarb, entstand im Ensemble der Wunsch, den Namen des Bewunderten zu tragen. Buschs Frau Irene hatte nichts dagegen. Dass der »Barrikaden-Tauber« und die Rechthaber-Partei keineswegs immer miteinander konnten, sollte das Verhältnis der Chor-Genossen zu »ihrem Vorbild« Busch nicht stören. Auf den Mann mit der Baskenmütze ließ man nichts kommen - und lässt es noch heute nicht. Auch wenn Arbeiter und Bauern ihre Gewehre inzwischen nur noch in den Musikanlagen von ein paar WG-Gemeinschaftsküchen zur Hand nehmen. Im Kulturhaus Karlshorst ist derweil die Probenpause zu Ende gegangen. Hartke schwingt wieder die Arme. »In mir klingt ein Lied«, behaupten die Bässe und Tenöre nun schon zum dritten Mal, und der Mann auf der Bühne hat seine Mühe. »Mehr reinlegen«, ruft er den Männern zu, und die Frauen kichern. Dann erklingt eine Textzeile: »Unter die Vergangenheit ein Strich.« Dass der Ernst Busch Chor von seiner Geschichte nichts mehr wissen will, stimmt allerdings nicht. Das Lied von der Partei, die immer Recht hat, würde hier zwar niemand mehr singen. Aber schließlich war nicht alles schlecht. So denken hier viele. »Die Medien malen gern das Bild von den alten roten Socken«, sagt Hartke. Seit der »Wende« sei viel Schlechtes über den Chor geschrieben worden: Dass hier die SED singend fortlebe und dass sich dieses Problem bald selbst erledigen würde - schließlich könnten auch die besten Arbeiterlieder der Biologie keinen Einhalt gebieten. Wenn man auf die öffentliche Meinung über den Ernst-Busch-Chor zu sprechen kommt, rollt auch Ursula Joseph mit den Augen. Die Juristin leitete einst die Rechtsstelle beim DDR-Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, saß später in einem akademischen Beratungsgremium des Ministers. Sie stieß erst 1999 dazu und ist, obwohl neu im Chor, heute dessen Chefin. »Manch einer kommt nicht mal in unsere Vorstellungen und stellt uns trotzdem als verbiesterte Hardliner dar.« Vielleicht liegt das am einstigen Namen: »Parteiveteranen.« Das hört sich nicht sehr schön an und klingt wie »Hauptaufgabe« oder »wissenschaftlicher Sozialismus«. Kein Wunder, dass mancher da an SED-Rentner denkt, die noch am Lebensabend Kampflieder singen müssen - im Auftrag der Partei. In Wirklichkeit ist alles anders. Vor 1989 konnte Mitglied in dem Ensemble zwar nur werden, wer schon viele Jahre Parteimitglied war. »Reingeredet hat man uns nicht«, sagt Erika Baier - jedenfalls hatte sie nie das Gefühl. »Manchmal durften wir in einem SED-Ferienheim ein paar Tage Urlaub machen oder neue Lieder einstudieren.« Und sonst? In den Erinnerungen ging es zwischen der Partei und ihrem Chor eher privat zu. Wenn zum Beispiel neue Blusen und Westen für die Auftritte beschafft werden mussten. »Wenn es an etwas fehlte«, sagt Erika Baier, »haben wir jemand von der Bezirksleitung zu einer Familienfeier eingeladen und ein bisschen über den Zustand der Chor-Garderobe geklagt. Ein paar Tage später war ein Zuschuss bewilligt.« Nicht von der SED, sondern von der Kulturverwaltung. So einfach konnte das sein. Ein anderes Mal besiegte der Chor sogar die führende Rolle der Partei. Einer der hauptamtlichen Vertrauensleute wäre gern Leiter des Ensembles geworden, wurde nicht gewählt und kam schließlich gar nicht mehr. Erika Baier mochte ihn auch weiterhin. Aber »der hat unsere Demokratie einfach nicht verstanden«. Als dann immer mehr Menschen zwischen Oder und Elbe dann aber doch die Demokratie verstehen wollten, zeigte die Konjunkturnadel für das Ernst-Busch-Ensemble. 1989 und der Veteranenchor passten einfach nicht zusammen. Doch während sich um die singenden Genossen herum alles in Auflösung befand, drängte der damalige Ensemble-Chef Hans Bastian auf eine »produktive Diskussion«. Man gründete einen Verein, überlebte und fand sogar neue Mitstreiter. Nur »aus dem Westen« hat bislang noch niemand angefragt. Vielleicht, weil es dort einen eigenen Arbeiter-Veteranen-Chor gibt, sagt Ursula Joseph. Vielleicht. Inzwischen ist aus dem Chor eine Institution geworden. Man ist bekannt. »Wir haben eine richtige Fangemeinde«, sagt Erika Baier und lächelt verlegen. Andere Chöre können davon nur träumen. Während die einstigen Parteiveteranen vor vollen Häusern auftreten, ist der Berliner Sängerbund in die roten Zahlen gerutscht. Mehr als 30000 Euro Miese. Die hohen Saalmieten, klagt Ursula Joseph, »und wenn dann kaum einer kommt«? Der Ernst Busch Chor mit dem neuen Anhängsel e.V. hatte Glück. Zu ihm kommen die Leute, Gäste wie Mitglieder. Auch ohne das Büchlein der SED. Die Partei interessiert hier niemanden mehr, sagen sie im Chor. Was zu sagen will man aber dennoch haben. »Wer sich bei uns vorstellt«, sagt Hartke, »der weiß doch, welche Lieder wir singen.« Inzwischen zwar nicht mehr nur Arbeiter- und Friedenslieder, sondern gern auch mal was mit Folklore. Eine »antifaschistische Grundhaltung« verlangt das Mitmachen aber schon, sagt Hartke. Und »ohne Völkerverständigung, Toleranz eben« braucht hier auch niemand anzuklopfen. »Wenn wir das Liedgut der Arbeiterklasse nicht bewahren, dann geht es unter.« Und dann fügt Hartke noch hinzu: »Das hat mit der SED überhaupt nichts zu tun.« Als es der Chor das erste Mal mit Kirchenliedern versuchte, gab es noch einmal ein paar Diskussionen. Manch einer wollte partout nicht mitsingen. »Aber das hat sich gelegt«, sagt Hartke. Schließlich gebe es zwischen Linken und Christen doch gar nicht so viel Trennendes. Zum Beispiel beim Thema Krieg. »Wir müssen Frieden haben / damit die Furcht vergeht /die durch des Krieges Flammen / in Kinderaugen steht«, singt der Chor, und rechts wird ein paar Frauen die Luft knapp. »Nicht nach den Flammen schnappen«, ruft Hartke in solchen Fällen von der Bühne. Dann lacht das Ensemble, und Hartke sagt, es gehöre einfach dazu, gegen den Krieg zu sein. Früher war der ehemalige Oberst musikalischer Leiter beim Deutschen Soldatensender. »Sie singen für ein besseres Leben«, hat einmal jemand versucht zu beschreiben, was die Alten im Chor bewegt. Später rücken die Damen und Herren die Stühle wieder zurecht und helfen sich in die Mäntel. Hier hat nicht einfach nur ein Chor geprobt, sagen sie auf dem Weg nach draußen, hier trifft sich auch eine Familie. Jede Woche. Für zwei Stunden. Dann gehen die gläsernen Türen zu. Der große Saal im Kulturhaus Karlshorst schläft wieder.
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