Bald anderselbst im eigenen Land?

Beim Lausitz-Festival gab es die seltene Gelegenheit, mit »Päonien-Pavillon« eine chinesische Kunqu-Oper zu erleben

  • Kai Köhler
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein Meer von Zeichen: Die chinesische Oper »Päonien-Pavillon« aus dem 16. Jahrhundert
Ein Meer von Zeichen: Die chinesische Oper »Päonien-Pavillon« aus dem 16. Jahrhundert

Chinesische Bühnenkunst war, bevor das westliche Drama Eingang fand, durchgängig Musiktheater. Die zahlreichen lokalen Schulen hatten ihre eigenen Regeln, und diese Regeln galt es zu kennen. Nichts war naturalistische Nachahmung der Wirklichkeit, alles wurde über Zeichen vermittelt. Die Bühne kam mit einem Minimum an Requisiten aus. Die Farbe des Gewands, die Art zu gehen oder die Körperhaltung zeigten den sozialen Rang der Figuren an. Eine ausdifferenzierte Gestik, bis hin zur Haltung der Finger, stand für Gefühle; ebenso die Mimik, soweit nicht ohnehin Masken verwendet wurden. Der Gesang endlich, der mit dem in der westlichen Oper wenig zu schaffen hat, verwendet vielfältige Register: vom Kehligen bis zum Falsett, vom Beinahe-Sprechen bis zum Melodischen.

Aber die Melodie ist vielleicht zweitrangig. Der einzelne Ton hat seine Entwicklung. Natürlich würde es auch bei einer westlichen Geige abgehackt klingen, würde sie die Viertelnote cis ganz ohne Ansatz und Abklingen und gegebenenfalls Phrasierung zum Folgeton übermitteln. Aber in der traditionellen ostasiatischen Musik hat das Schwingen des Einzeltons einen ungleich höheren Stellenwert. Was den Gesang angeht, kommt das dem Chinesischen als einer tonalen Sprache entgegen, das heißt: einer Sprache, in der das Auf- oder Abwärtsklingen der Vokale Bedeutungen unterscheidet.

Die chinesische Oper setzte kaum auf Neuerung. Natürlich haben sich im Verlauf der Jahrhunderte die Geschichten und Vortragsweisen verändert, doch ging man nicht ins Theater, um eine spannende Handlung mit ungewissem Ausgang zu erleben. Die Storys wurden hier und dort variiert, in ihrer Grundstruktur waren sie bekannt. Man erfreute sich an der Virtuosität der Darstellung. Wahrscheinlich sah man auch selten das Ganze der sehr ausgedehnten Stücke, sondern setzte sich für ein paar Stunden ins keineswegs ruhige Publikum. Sergej Tretjakow etwa hat in einem seiner Reisebücher geschildert, wie noch vor 100 Jahren die Peking-Oper Volkstheater war.

Das bekannteste Werk im Entwicklungsstrang der Kun-Oper ist »Der Päonien-Pavillon« von Tan Xianzu, uraufgeführt 1598. Während der etwa 22 Stunden Spielzeit lässt Tan um die 160 Personen auftreten und verbindet eine Liebeshandlung mit politischen Vorgängen, ohne dabei die Geisterwelt zu vernachlässigen. Der Regisseur und Darsteller Zhang Jun hat das Ganze auf vielleicht etwas knappe 70 Minuten konzentriert, die die Liebesgeschichte bringen: wie der angehende Gelehrte Liu Mengmei und die junge Frau Du Liniang voneinander träumen, Liniang stirbt, Mengmei in einem Bild die im Traum Geliebte wiedererkennt und schließlich – dank wohlwollender Geister – die beiden ein Paar werden.

Wie schreibt man eine Kritik über eine solche Aufführung? Der Rezensent weiß leider genug, um zu ahnen, was er hätte wissen müssen. Anders als er hätte jeder Fischverkäufer in Shanghai 1924 nicht nur verstanden, was eine Geste an einem bestimmten Punkt der Handlung bezeichnet, sondern hätte auch beurteilen können, wie kunstvoll die Geste ausgeführt wurde.

Kunst, wie alles Schöne,erfordert Arbeit.

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So bleibt hier nur zweierlei. Das Erste ist ein kenntnisloses Lob: für den Reichtum an Klängen, die Pracht der Kostüme, die stilisierte Eleganz der Bewegungen. Das Lob geht aber – auf dieser Ebene – auch an die Organisatoren des Lausitz-Festivals. Sie haben das heidnische Spiel in die Klosterruine der Burg Oybin verlegt; und den Wechsel von Traum, Tod und neuem Leben in der allmählich hereinbrechenden Dunkelheit im alten Gemäuer zu erleben, war stimmungsvoll und wurde entsprechend bejubelt.

Aber es war eben Stimmung und konnte nicht Kenntnis sein. »Anderselbst« lautet das Motto des diesjährigen Lausitz-Festivals. Das neu geschaffene Wort meint, durch die Begegnung mit einem Anderen das Selbst zu bereichern. Das verdient Unterstützung, zumal am Vorabend der Wahl in Sachen und nur wenige Wochen vor der in dem zweiten beteiligten Bundesland, Brandenburg – mit absehbaren Zugewinnen der AfD, die das Selbst verabsolutiert und vom Anderen nichts wissen will. Jedoch bleibt zu fragen, in welchem Maß das Fremde so weit nachvollziehbar wurde, dass es das Eigene bereichern kann. Natürlich, irgendwie liebt man auch in China, und das ist ein Gemeinsames. Aber wer hier versteht ohne Erklärung, wie man 1598 in China liebte? Kunst, wie alles Schöne, erfordert Arbeit.

Und wer mag es in China verstehen? Zhang Jun ist ein Neuerer, der sogar schon Shakespeares »Julius Caesar« für die klassisch-chinesische Bühne adaptiert hat. In Oybin war auch für Laien hörbar, dass die traditionelle Instrumentalbesetzung von Bambusflöte, Griffbrettzither und Schlagwerk an ausgewählten Stellen durch europäisch harmonisierte Zuspielungen ergänzt wurde. Soll man das als Verfälschung tadeln? Doch werden ja hier auch die Opern Monteverdis nicht mehr mit den Bühnenmitteln des 17. Jahrhunderts aufgeführt. Die Gattung, soll sie nicht nur Museum sein, verändert sich, und irgendwann gilt »anderselbst« auch im eigenen Land. Allein schon, wenn die Abende in Oybin angeregt haben, sich mit der Sache näher zu befassen, waren sie die Reise wert.

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