- Kultur
- Telemanns „Orpheus“ im Apollo-Saal der Berliner Staatsoper
Vom Archiv staub befreit, zu flottem Bühnenleben erweckt
Die antike Sage von dem Sänger und Künstler, der mit seinen Liedern Pflanzen und Tiere zu bewegen, Menschen zu rühren, selbst Tote ins Leben zurückzurufen vermag, hat die Oper von ihren Anfängen bis in unsere Tage begleitet: Orpheus, der hinabsteigt in die Unterwelt, um seine Frau Eurydice zurückzugewinnen, sie jedoch aus unbeherrschter Liebe für immer verliert. Auf der Musikbühne ist sie vor allem präsent durch die Vertonungen Monteverdis von 1607 und Glucks von 1762, auch durch Offenbachs Operette von 1858. Aber es gibt Verschollenes, das sich lohnt, ausgegraben zu werden. Der Wissenschaftler Peter Huth und der Musiker Rene Jacobs entrissen eine weitere Opernversion des Sagenstoffes dem Staub der Archive: Georg Philipp Telemanns „Orpheus oder Die wunderbare Beständigkeit der Liebe“ (1726) hatte jetzt (nach 1990 in Eisenach) erfolgreiche Premiere im Apollo-Saal der Lindenoper.
Telemanns Musik, in ihren vielschichtigen Facetten und Formen, ihrem Gefühlsreichtum und bewegendem Ausdruck, bricht die starren Schemata der Barockoper auf: Variabel gestaltete Arien, Ariosi, Rezitative und Chorszenen. Ungewöhnlich ist das Libretto: nicht Orpheus, sondern Orasia, verwitwete thrakische Königin und Herrscherin, lenkt die Fäden des Geschehens. Sie will Orpheus für sich gewinnen, verursacht mittels magischer Kräfte den Tod Eurydices, läßt schließlich den ihr widerstehenden Sänger von ihren Bacchantinnen zerfleischen, ehe sie sich verzweifelt selbst das Leben nimmt. Intrige und Tragödie in einem.
Telemann, seit 1721 Hamburger Director musicis, ver-
fuhr recht unbekümmert: Er dichtete ein französisches Libretto von Michel Du Boullay deutsch um, behielt aber Passagen in der Originalsprache bei, bezog italienische Arien mit ein. Dreisprachigkeit als Pendant zum „Vermischten Stil“ seiner Musik, die Deutsches, Italienisches und Französisches verbindet.
Die Initiatoren Regisseur Jakob Peters-Messer und Bühnen- und Kostümbilder Tobias Hoheisel haben bei der neuen Aufführung, die eine Koproduktion mit den Festwochen der Alten Musik Innsbruck ist,' vorwiegend auf spielerisch dekorative Elemente des Werkes gesetzt. Das paßt brillant ins Interieur des Rokoko-Raumes, bringt Ironisches ein, unterhält vor allem trefflich. Auf kompaktem requisitenfreiem Holzpodium mit massivem Aufbau und hölzerner Orchesterwanne vollzieht sich ein graziös-elegantes Spiel. Schön anzusehen die aparten Kostüme in schlicht bürgerlichem
Schwarz-Weiß, (Orpheus, sein Freund Eurimedes, Eurydice, Nixen) und feudalem Brokatglanz (Orasia, Höllenfürst Pluto). Anmutiges und Überraschendes wie die Liebesszenen Orpheus/Eurydice, der Nymphenchor, die wunderbare Wiederbelebung der verdammten Schatten oder die menschliche Wandlung des Unterweltfürsten sind von beredter, zu Herzen gehender Wirkung. Weniger das Dramatische.
Vergnügen macht die satirische Zeichnung Plutos als machtarrogantem Duodezfürsten und seines beflissen-grausamen Dieners Ascalax, Produkt höfischer Servilität. Spaß macht auch die Bravour Orasias als Primadonna par exzellence. Daß aber Orpheus als narzistisch sich selbst genü-
gender Dichter gezeigt wird, scheint mir im Widerspruch zur Musik zu stehen, zur Tiefe der Trauer und der Würde der Arien, die sich im dritten Akt in einer ergreifenden Szene oratorienhaft tragisch steigern. Mit einem verzärtelten Dichterling hat das nichts zu tun. Auch die furiosen Koloratur-Escapaden Orasias sind keineswegs nur Stimmakrobatik, wie es zuweilen den Anschein hatte. Eine artistisch-einfallsreiche Inszenierung, die leider zu wenig den Ernst der Musik berücksichtigte.
Die Plazierung des Publikums auf ansteigenden Holzbänken zu beiden Seiten des Podiums und Orchesters machte es den erstklassigen Sängern nicht leicht. Dirigent Rene Jacobs inspirierte zu feinst ausgewogenem Gesang und Spiel. Beherrschend in virtuoser Perfektion, verführerischer Stimmschönheit und attraktiver Erscheinung war die Orasia der amerikanischen Koloratorsopranistin Janet Williams. Durch baritonalen Glanz und intensiven melodischen Ausdruck gab Roman Trekel dem Orpheus menschliche Wärme. Efrat Ben-Nuns Eurydice besaß jugendliche Soprangrazie, Mathias Zachariassens Eurimedes erhielt sympathisches stimmliches Profil. Mit großem Können setzten sich ebenso Brigitte Eisenfeld (Cephira), Grant Dickson (Pluto), Axel Köhler (Ascalax) und Carola Nossek (Priesterin) für ihre Rollen ein. Ausgezeichnetes leistete der von Ernst Stoy einstudierte Chor. Das exzellente Orchester, die Akademie für Alte Musik Berlin, gab der Aufführung durch ihr genaues, klanglich apartes Musizieren auf historischen Instrumenten ein ganz eigenes Fluidum.
LIESEL MARKOWSKI
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