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  • Politik
  • Neue Musik hat nur in außergewöhnlichen Konzerten eine Chance

Defizite in Leipzigs Konzertleben

  • Lesedauer: 4 Min.

Von Werner Wolf

Es will heutzutage schon einiges bedeuten, wenn eine (1991 begründete) Reihe mit neuer Kammermusik ihr 25. Konzert vermelden kann. Der Arbeitskreis Leipzig im Sächsischen Musikbund kann damit aufwarten, dank des unermüdlichen Einsatzes seines Vorsitzenden Günter Neubert, der inzwischen auch dem Landesverband vorsteht. Die Benennung »Das außergewöhnliche Konzert« zielt nun aber nicht auf Extravaganzen, sondern auf Vielfalt, zumal auf Besetzungen, die in »gewöhnlichen« Konzerten kaum zu finden sind.

Das »25.« war wiederum beispielhaft für diese Bezeichnung. Nach gängigen Vorstellungen hätte es Trioabend heißen können. Doch nur zwei der sechs angekündigten Werke, die von Siegfried Thiele und Günther Witschurke, waren für gleiche Besetzung geschrieben, für Flöte, Viola und Harfe. Die außergewöhnlichste Kombination wählte Günter Neubert für seine gegen Konventionen aller Art gerichteten musikalischen Essays nach Gre-

try für Englisch-Horn, Posaune und Kontrabaß. Wie mit Besetzungen des 19 und 18. Jahrhunderts gegenwärtig musiziert werden kann, beweisen Bernd Franke mit »Solo3fach« für Violine, Hörn und Klavier (in Gedenken an Joseph Beuys), Manfred Weiss mit »Klaviertrio II« für Violine, Violoncello und Klavier und Reinhard Pfundt mit seiner Serenade für Flöte, Violine und Violoncello. So abwechslungsreich war fast jedes der 25 Konzerte angelegt, auch das zu den 60. Geburtstagen von Günter Neubert und Karl Ottomar Treibmann im Vorjahr mit den um den Bratschisten Matthias Sannemüller gescharten, stets einsatzbereiten Musikern des MDR-Sinfonieorchesters.

Wenn schon einmal ein Streichquartett in klassischer Besetzung musiziert, wie das Salzburger Stadler-Quartett, erklingt dennoch Außergewöhnliches, in diesem Falle ekmelische (mikrointervallische) Musik. Weder in der Auswahl der Werke noch der Interpreten begrenzen sich diese Konzerte auf Künstler des sächsischen Raumes. Gruppierungen wie das »ensemble recherche«, das »Quartett Avance«, das Kölner »trio basso«, die in Köln lebende amerikanische Flötistin Carin Le-

vme führten auch Werke von Steve Reich, Mauricio Kagel, Edison Denissow, Kazimierz Serocki, Xannis Xenakis, Wolfgang Rihm, H. J. Hespos u.a. auf. Auch Berliner Komponisten wie Georg Katzer, Karl-Heinz Wahren und Lothar Voigtländer waren zu hören.

Eine zweite Reihe mit neuer Kammermusik veranstaltet das Leipziger »Forum für zeitgenössische Musik« mit ebenfalls verschiedenartigen Besetzungen. Bereits seit den 80er Jahren finden im Gewandhaus in jeder Saison vier Abende »musica nova« statt, zuerst von Friedrich Schenker, jetzt von Steffen Schleiermacher konzipiert. Und in letzter Zeit hat sich auch der Mitteldeutsche Rundfunk in Leipzig zu einer »Hörfenster« genannten Reihe mit neuer Kammermusik aufgerafft. Zudem führen die Thomaner, der Universitätschor, der Kammerchor »Josquin Desprez« neue Chormusik auf, so von Karl Ottomar Treibmann, Günter Neubert und Siegfried Thiele.

Also könnte daraus geschlossen werden, in Leipzig stünde es gut um die zeitgenössische Musik. Gefehlt, die Aktivitäten geschehen (mit Ausnahme der Thomaner-Motetten und Chorkonzerte) au-

ßerhalb der traditionellen Anrechtsreihen des Gewandhauses und des Rundfunks. Schon die fast allwöchentlichen Gewandhaus-Kammermusiken be-

schränken sich (von wenigen Ausnahmen abgesehen) darauf, einige Klassiker des 20. Jahrhunderts aufzuführen. Noch weniger Raum hat die neu entstehende Musik, zumal die einheimischer Komponisten, in den Anrechtskonzerten des Gewandhauses und des (zu Herbert Kegels Zeiten auf diesem Gebiet führenden) Rundfunks. Selbst ein Meister wie Karl Amadeus Hartmann, wahrhaftig ein Sinfoniker von Rang, wird kaum bedacht. Für Hans Werner Henze mußte erst dessen 70. Geburtstag kommen, bevor in einem Gewandhauskonzert eine Sinfonie (seine siebente) erklang und seine zweite Streichersonate uraufgeführt wurde. Ansonsten konzentrierte sich Kurt Masur auf Alfred Schnittke, Gija Kantscheli und Siegfried Matthus. Von einheimischen Komponisten waren immerhin Siegfried Thiele, Friedrich Schenker und Bernd Franke einmal in den letzten Jahren vertreten. Für die Programme des MDR-Sinfonieorchesters gilt Krzysztof Penderecki als Favorit. Nur Günter Neubert mit drei Sätzen aus seiner Orchestermusik und Udo Zimmermann (als sein eigener Dirigent) hatten das Glück, ebenfalls in Sinfoniekonzerten vertreten zu sein.

Komponisten wie Paul Dessau (mit Ausnahme der Bach-Variationen 1994

zum »100.« im Gewandhaus), Hanns Eisler, Ottmar Gerster, Rudolf Wagner-Regeny, Ernst Hermann Meyer, Johann Cilensek, aber auch Fritz Geißler, Günter Kochan, Paul-Heinz Dittrich, Siegfried Katzer, Karl Ottomar Treibmann, Friedrich Goldmann sucht man in Leipziger Sinfoniekonzerten vergeblich. Da muß es schon als außergewöhnliche Tat gewürdigt werden, daß die seit Herbst 1996 von Horst Neumann geleitete Westsächsische Philharmonie als Beitrag zum 75. Geburtstag Fritz Geißlers dessen bislang noch ungespieltes Violinkonzert mit starkem Erfolg in Borna uraufführte. Gewiß ist für Stücke wie »Des Sieges Gewißheit« ebenso wenig Konjunktur zu erwarten wie für »Wellingtons Sieg« von Beethoven, doch die Streichersinfonie von Ernst H. Meyer, Paul Dessaus »Lumumba«-Requiem und manches andere Werk der zuletzt genannten Komponisten dürfte sich bei einer Wiederaufführung als gegenwärtig erweisen, wie die 1995 zum 50. Jahrestag der Befreiung unter Lothar Zagrossek im Gewandhaus aufgeführte »Deutsche Sinfonie« Hanns Eislers.

Weil in Leipzig derzeit jede Institution und Organisation für sich arbeitet, ist es - im Unterschied zur Region Halle - auch nicht gelungen, die »Tage zeitgenössischer Musik« weiterzuführen. Daran waren ja einst das Gewandhausorchester und die Rundfunk-Klangkörper mit Anrechtskonzerten beteiligt. Warum sollte das heute nicht mehr möglich sein?

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