Schreiben nach Auschwitz

Jean Améry zum 100.

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Er hat mit viel Glück Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt, an ein glückliches Leben danach war nicht zu denken. Hans Mayer, der sich später Jean Améry nannte, wurde am 31. Oktober 1912 in Wien als Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter geboren. 1938 ist er aus Österreich nach Brüssel geflohen, kam von dort nach Frankreich, wo er als »feindlicher Ausländer« im Lager Gurs interniert wurde. Er floh, schloss sich dem belgischen Widerstand an, wurde 1943 verhaftet, ins Festungslager Breedonck verschleppt und schwer gefoltert.

In »Fiktionalisierung« von 1945 und in »Die Tortur« von 1965 verarbeitet Améry diese Erfahrung des physischen Schmerzes, bei dem die »Materie über den Geist triumphiert«. Als er als Jude erkannt wird, folgt seine Deportation nach Auschwitz. Im Juni 1944 begegnet er dort Primo Levi - eine sich zu legendärer Rivalität um die literarische Aufarbeitung der Auschwitz-Erfahrung steigernde Begegnung. Primo Levi schreibt schon 1947 seinen grundlegenden Bericht »Ist das ein Mensch?«. Améry verfasst 19 Jahre später seine Aufarbeitung »Jenseits von Schuld und Sühne«. Von Auschwitz wird er Anfang 1945 nach Dora-Mittelbau verschleppt, von dort weiter nach Bergen-Belsen.

Die physischen und psychischen Erfahrungen der Verfolgung, der Tod seiner ersten Ehefrau und die Not der unmittelbaren Nachkriegszeit bestimmen Amérys weiteres Leben. In Essays und literarischen Werken setzt er sich mit der Philosophie seiner Zeit, mit der condition humaine nach Auschwitz sowie den politischen Forderungen nach Bestrafung der Täter oder den Schulddimensionen der deutschen Bevölkerung auseinander. Im »Merkur« und im Radio erscheinen seine Beiträge wie die temperamentvolle Abrechnung mit Heidegger, seine Einführungen in die französische Philosophie, Schwerpunkt Sartre. Er wird zu einem gefragten und vielbeschäftigten Publizisten, der durch die Eleganz seines Stils besticht.

Er ist dann der erste, der so etwas wie einen »linken Antisemitismus« ausmacht, der die damals aufkommende Kritik an der Außen- und Sicherheitspolitik Israels angreift. Wenn er schreibt, »mein Judentum nahm in Auschwitz für mich jene endgültige Gestalt an, die es bis heute behielt«, ist es existenzielles Eingeständnis, dass er durch die Verfolgung zum bewussten Juden gemacht wurde. Diese Erfahrungen lassen ihm keinen Spielraum für Relativierungen in den Lebensfragen des nur aus der Vernichtungspolitik der Nazis erklärbaren Staates Israel.

Zeitlebens setzt er sich mit dem von Menschen selbst gewählten Ende des Lebens auseinander, zuletzt in »Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod«. Am 17. Oktober 1978 nimmt er sich in Salzburg das Leben. Neun Jahre später folgt ihm sein Leidensgenosse Primo Levi.

Die Werke von Jean Améry sind im Verlag Klett-Cotta in einer neunbändigen Ausgabe erschienen.

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