Verlierer auf der Straße der Gewinner
»Kapital« von John Lanchester - Sozialkritik, verpackt in einen personenreichen Roman
Jenseits der britischen Inseln mit ihrem tief verwurzelten Klassendenken erfordert John Lanchesters subtile Ironie etwas intellektuellen Aufwand, um zu funktionieren. Doch schlimmstenfalls liest die unschuldige Leserin auf dem europäischen Kontinent das »Kapital« als eine Art qualitativ hochwertige »Lindenstraße« in Buchform. Denn im Zentrum des streckenweise handlungsarmen, aber personenreichen und keineswegs an Tiefgang mangelnden Romans in 107 Episoden steht die sich gentrifizierende Pepys Road in London: »Großbritannien war zu einem Land von Gewinnern und Verlierern geworden, und alle Menschen in dieser Straße hatten allein durch die Tatsache, dass sie dort wohnten, gewonnen.«
So überrascht es niemanden wirklich, dass eines Tages zunächst Postkarten mit dem Aufdruck »Wir wollen das, was ihr habt« in den Briefkästen der Anwohner landen. Erst als der/die Täter parkende Autos zerkratzen und tote Vögel verschicken, wird die Polizei eingeschaltet und Metropolitan Police Inspector Mill zu einer Bürgerversammlung geladen. Eigentlich spielt es jedoch keine Rolle, wer sich hier anarchistisch als Protestler (oder Künstler?) betätigt, denn das Leben der Lanchesterschen Protagonisten plätschert mal mehr, mal weniger leidenschaftlich weiter.
Der Autor widmet ihnen abwechselnd einzelne Kapitel, und als Typen oder Charaktere geben sie einiges her, um narrative Spannung zu erzeugen. In ihrer unfreiwilligen Gemeinschaft bilden sie eine Art Mikrokosmos der britischen Gesellschaft: die achtzigjährige Petunia Howe, die ihr Leben lang schon in der Pepys Road lebt, und sich verdutzt fragt, wer sie um ihr tristes Rentnerinnen- und Witwendasein beneidet; Mary Leatherby, ihre Tochter, die eher unwillig aus Essex zurückkehrt, um die greise Mutter zu pflegen; Roger Yount, der Investmentbanker bei Pinker Lloyd und seine geldgierige Botox-Gattin Arabella, die ihre Söhne Joshua und Konrad am liebsten rund um die Uhr in der Obhut einer Nanny sieht; das ungarische Kindermädchen Matya Belatu und die zarte Romanze zwischen ihr und dem polnischen Handwerker Zbigniew, den alle Bogdan nennen, weil das einfacher ist; Graham alias Smitty, der Aktionskünstler, Mickey Lipton-Miller, das hochbezahlte Manager-Faktotum bei Arsenal London, und Freddy Kamo, der vielversprechende Nachwuchskicker aus dem Senegal, Iqbal, der belgische Jihadist, der pakistanische Kioskbesitzer Ahmed Kamal mit seinen Brüdern Usman und Shahid Kamal, Quentina und andere Flüchtlinge aus dem armen Süden der Welt …
Nun ist es die Realität der modernen Nachbarschaft - zumal im Kontext einer großen Stadt -, dass sich die Wege vieler Menschen kreuzen, ohne dass sie sich tatsächlich begegnen. Da dies jedoch ein Roman ist, hätte es mir besser gefallen, wenn es mehr Interaktion dieser liebevoll und lebensnah geschilderten Charaktere gegeben hätte. Sozusagen eine wirkliche Geschichte um Lanchesters prägnant-subkutane Sozialkritik. Stattdessen bleibt ein offenes Ende für die über 682 Seiten begonnenen Plots, die nun ins Leere ausrollen. Aber vielleicht gibt es ja irgendwann eine Fortsetzung.
John Lanchester: Kapital. Roman. Aus dem Englischen von Dorothee Merkel. Klett-Cotta. 682 S., geb,, 24,95 €.
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