Etwas fühlt sich falsch an
Wie still die Straße ist in der Nacht. Nur ganz in der Ferne ein Zug. Alle Fenster dunkel, so weit man es von hier aus sehen kann. Anderswo rasen Autos über den Asphalt, da rockt der Bär. Dort gibt es selbst im Dunkel des Advent keine Nachdenklichkeit. »Du bist verrückt, mein Kind, du musst nach Berlin«, hieß es schon Ende des 19. Jahrhunderts in einem Lied. Aber ob die Touries tanzen, die Säufer saufen oder die Leute in meiner Straße schlafen, macht insofern keinen Unterschied, als sie mit sich selbst beschäftigt sind - und nicht mit dem Dilemma der Welt.
Das Fernsehen hat es in die Stuben gebracht. Verweht ist es nicht, nur für ein paar Stunden weggeträumt. Es ist wie ein Bodensatz unter den Alltagsdingen: dass in Nahost ständig gezündelt wird, dass der Drogenkrieg in Mexiko weitergeht, dass es systematische Morde gibt, vielerorts, von denen wir nichts wissen. Dass auch uns eine Wirtschaftskrise droht, die das mühsam Ersparte angreifen könnte. Wie sich absichern? Die Raten fürs Haus ... Die Gaspreise ... Die Klimakatastrophe ... Der Schmerz im Rücken ... Das Herz ... Man sollte mal wieder zum Arzt ... Ins volle Wartezimmer? ... Ach, schlaf ...
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»Dass es immer so weitergehen wird, weil es bisher immer so weitergegangen ist, ist nichts anderes als ein beruhigender Irrtum«, sagt Manfred Lütz, der mit seinem Buch »Bluff! Die Fälschung der Welt« schon monatelang auf den Bestsellerlisten ist. Er hat Philosophie und Theologie studiert, ist bekennender Katholik. Als Psychiater leitet er seit 1997 ein Krankenhaus in Köln. Ein engagierter Mann, der Freude daran hat, seine Überzeugungen zu verbreiten. Heitere Gewissheit geht von ihm aus. Und er hat Sinn für Themen, die »in der Luft liegen«.
Zu Beginn erzählt er die Geschichte vom Mönch aus Heisterbach, der sich im Wald verlief und dort einschlief. Zurück im Kloster, wurde er nicht erkannt. Jahrhunderte waren vergangen. Im »falschen Film« zu sein, hat wohl jeder schon mal geträumt. Es ist auch ein altes Motiv der Kunst. Seit ihren Anfängen fragt die Philosophie, ob die Welt wirklich erkennbar sei. Seit jeher gab es das Bemühen, die Verhältnisse zu durchschauen, in denen man lebt.
Da kann unsereiner nur dankbar sein, dass es in der Schule ein paar Unterrichtsstunden und an der Universität mindestens ein Semester lang einen Grundkurs zur Ökonomie des Kapitalismus gab. Der Staat als Machtinstrument der herrschenden Klasse, Kapital und Arbeit, Profit, Entfremdung - Begriffe für eine damals noch fremde Realität, die nun zur eigenen wurde. Ein analytisches Besteck sozusagen. Hilfe zur Gelassenheit, um nicht bloß zu jammern und zu grollen.
»Gewiss, die Fälschung der Welt ist ein gutes Geschäft für die vielen Regisseure des falschen Films, in dem wir leben«, sagt Manfred Lütz. »Doch es gibt auch Kulissen, die wir uns selber bauen.« Sich nicht von künstlichen Welten in Besitz nehmen zu lassen, dazu will er ermutigen. Er schreibt an gegen die Lügen der Finanzwelt, gegen die Psychoindustrie, gegen »esoterische Plastikreligionen«, Inszenierungen durch die Medien nicht zu vergessen. Das mag für manche Leser viel Neuigkeitswert, für andere weniger haben. Wie er immer wieder auf die Religion abhebt, die dem Menschen ein Gespür für Sinn, für Gut und Böse geben und ihn gegen Fälschungen resistent machen kann, da nicken die einen und die anderen greifen sich an den Kopf.
Bei allen Bedrückungen - diese Gesellschaft gewährt die Freiheit, dass jeder seine Ansichten ausleben kann. So vielgestaltig die Ich-Entwürfe, dass sich hinter dieser Buntheit der grundlegende Gegensatz zwischen Oben und Unten, zwischen Arm und Reich mitunter verwischt. Die Differenz verhindert Zusammenschlüsse. Da ist es anregend, wie Manfred Lütz mit dem Begriff der Milieus operiert. Zehn von ihnen hat das SIGMA-Institut für das Jahr 2012 ausgemacht. Die Liste erscheint unvollständig, weil die verschiedenen Protestkulturen, das alternativ ökologische Milieu, die Kulturen von Migranten und nicht zuletzt die diversen DDR-Sozialisationen hinter anderen Begriffen verschwinden. Soziologisches Harmoniebedürfnis?
Dabei werden Unterschiede allerorten zelebriert. Das hat nicht nur mit politischen Überzeugungen zu tun, das beginnt schon mit der Wohnungseinrichtung, der Kleidung, den Ernährungsgewohnheiten. »Man merkt am besten, dass man zu einem bestimmten Milieu gehört, wenn man sich in allen anderen Milieus total unwohl fühlt«, sagt Manfred Lütz, hält es aber für wichtig - auch für sich selbst -, solche Abgrenzungen »humorvoll infrage zu stellen«. Erklärlich, woher sie kommen: »Man hält im Strom einer immer unverständlicheren großen Welt umso krampfhafter und heftiger an dieser kleinen Welt fest, die mit Klauen und Krallen als einzig wahre Welt verteidigt wird. Je größer also und unheimlicher die Globalisierung, desto heimeliger und wehrhafter das kleine Milieu«, ob nun »Alpenverein« oder »Kegelclub«. Die diversen Milieus versprechen Sicherheit, Identität, andererseits sind sie, so Manfred Lütz, »wie bunt bemalte Zuchthäuser, in denen den Insassen von der ungeschriebenen Hausordnung gesagt wird, was richtig und was falsch ist. Scheinbar haben sie Freigang, doch das Leben läuft so künstlich ab wie in einem Fernsehstudio ...«
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In meiner Straße hat niemand außer mir das »nd« abonniert. Einige haben früh die »Berliner« im Briefkasten. Manche kaufen sich, was sie gerade interessiert. Nicht ausgeschlossen, dass jemand auch gar keine Zeitung liest. Fernsehen genügt. Oder Internet. Das Sendungsbewusstsein von Journalisten in allen Ehren. Bestimmte Lesergruppen sind dadurch ans Blatt gebunden. Aber viele lesen deshalb keine Zeitungen mehr, weil sie nerven. Täglich Kriegsalarm, Krisenalarm, Lügenalarm. Immer muss etwas angeprangert werden - aufmerksamkeitsheischend, jede Zeitung will sich verkaufen. Reizüberflutung. Schnelle Meinungsäußerung rangiert vor wägendem Durchdenken. Und außerdem: Journalisten mögen gesellschaftliche Zustände kritisieren - scharf, immer schärfer -, es scheint sich doch kaum was zu ändern.
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»Analysen liegen genug auf dem Tisch, jetzt gilt es, das Formulieren von Auswegen zu wagen«, resümiert Angela Elis, 1966 bei Leipzig geboren, Theologiestudium, 1988 Ausreise in die BRD, Fernsehjournalistin und Kolumnistin im »Tagesspiegel«, in ihrem Buch »Betrügerrepublik Deutschland. Streifzug durch eine verlogene Gesellschaft«. Die Wirtschaft möge dem Menschen dienen und nicht umgekehrt, für Medien müsse es ein »Verdummungsverbot« geben, Politiker sollten sich nicht länger von Lobbyisten »die Ohren vollquatschen lassen«, die Finanzwirtschaft dürfe andere nicht mehr »abzocken« und so weiter und so fort.
Hieß es nicht, eine Idee würde zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift? Angela Elis geht von einem Gefühl aus, das sie mit vielen teilt. »Irgendwie ist der Wurm drin. Der Wurm in unserem Leben... Das Leben fühlt sich irgendwie falsch an. Etwas stimmt nicht mehr.« Was alles nicht stimmt in der Politik (»Lügen für die Wahrheit sind wie Bomben für den Frieden«), in der Finanzwirtschaft (»Geldvernichtung mit Luftschlössern und Seifenblasen«), im Gesundheitswesen (»Ärzte, die als Kaufleute mit Gewinnmaximierung behandeln«), in der Ernährungsbranche (»mit Lügen Fraß verkaufen«), dafür bringt sie auch Fakten. Es ist ein gesellschaftskritischer Rundumschlag, gut recherchiert und gut geschrieben. Aber rezensiert wurde das Buch offenbar nur spärlich. Das einflussreiche Online-Kulturmagazin »Perlentaucher« widmete ihm noch keine Zeile und Wikipedia weiß nicht mal was davon.
Weil sie Herrschaftsstrukturen durchleuchtet, manch einem konkret auf die Füße getreten ist? Oder ganz simpel, weil der Verlag daraus keinen Spitzentitel machte und also kaum dafür geworben hat? Doch selbst wenn Angela Elis' Appell für mehr Wahrhaftigkeit in »FAZ«, »Süddeutscher«, »Zeit« - das sind nun mal die »Meinungsführer« - mit ganzseitigen Texten publik gemacht worden wäre, was hätte sich geändert? »Ein Land, das ein Leben ermöglicht, das unserem Dasein als Menschen ... würdevoll entspricht« - wäre es nähergerückt?
Dass »Sehnsucht die Gesellschaft verändert«, glauben Rainer Nübel und Christina Brecht-Benze. »Aufbrechen«, nannten sie ihr Buch. Die Sehnsucht »nach einer anderen, menschlicheren, gerechteren Gesellschaft« habe »eine breite Mittelschicht erfasst«. Diese Menschen würden »Solidarität« vermissen, »Empathie und soziale Wärme, Chancengleichheit und Gleichberechtigung. Ihnen fehlen aber auch ganz konkrete Dinge wie Kindertagesstätten, Studienplätze oder menschenwürdige Altersheime. Als größten Mangel erleben viele, von den Regierenden mißachtet zu werden.«
Ist der Aufbruch in solch ein Sehnsuchtsland möglich, ohne die Besitzverhältnisse zu ändern? Ist der wild gewordene Kapitalismus anders zu bändigen als über Katastrophen? Ginge es in kleinen Schritten oder ist das Illusion?
Schau hin, sagen die Autoren, wie viele Risse jetzt schon durch die Gesellschaft gehen, wie viele Aufbrüche es schon gibt. Aber das Ermutigende hat auch seine Kehrseite. Ein Problem wird persönlich oder für eine Gruppe gelöst. Man agiert, um auf Manfred Lütz zurückzukommen, im Rahmen eines Milieus und kaum übergreifend.
Wenn insbesondere die Linke für sich reklamiert, Motor gesamtgesellschaftlicher Veränderung zu sein, müsste sie auch gesamtgesellschaftliche Interessen - will sagen: die unterschiedlichen Interessen in den verschiedenen Milieus - vor Augen haben. Das heißt Abgrenzungen aufgeben, in Bewegung kommen, eigene Identität immer wieder frag-würdig machen, also auch auf Sicherheiten verzichten, derentwegen man sich womöglich gerade ins links-alternative Milieu begeben hat. Es gab ja Gründe, sich vom bürgerlichen Elternhaus zu lösen. Wie soll man nach solch einem Aufbruch von einem Lehrerssohn aus Hamburg Empathie für eine Zahnarztgattin aus Ulm verlangen?
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Stille Straße am Sonntagmittag. Diffuser Duft nach Gebratenem. Seit Stunden schon menschenleer. Endlich tut sich was: Die Frau von nebenan führt ihren Hund aus. Gegenüber hält ein Auto mit Baumaterial. Dort ist die Familie beim Umbauen, damit die kranke Mutter mit im Haus wohnen kann und nicht ins Pflegeheim muss.
Manfred Lütz: Bluff! Die Fälschung der Welt. Droemer. 189 S., geb., 16,99 €. Angela Elis: Betrügerrepublik Deutschland. Streifzug durch eine verlogene Gesellschaft. Piper. 287 S., br., 15,99 €. Rainer Nübel / Christina Brecht-Benze: Aufbrechen. Wie Sehnsucht die Gesellschaft verändert. Eine Ermutigung. Klöpfer & Meyer. 184 S., geb., 16 €.
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