Popikone des 19. Jahrhunderts
Edgar Selge über Ludwig II., Richard Wagner und seinen Sohn
Selge: Das ist der Reiz des Berufes. Doch ob Wagner oder ein Kindesentführer – die Fantasie hält immer eigene Erfahrungen bereit, an die man anknüpfen kann. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass man unter den materiellen und menschlichen Konsequenzen von beruflichem Misserfolg so leidet, dass man ein Verbrechen begeht, um vor sich selbst wieder Anerkennung zu gewinnen. Was nicht heißt, dass ich das billige. Aber wir beschäftigen uns mit Kunst, um Menschen, die wir normalerweise verabscheuen, zu verstehen. Wir müssen nicht gut heißen, was sie tun. Insofern habe ich als Schauspieler keine Schwierigkeiten mich jemanden anzunähern, der etwas Verbotenes tut. Das Potential für jedes Verbrechen ist in jedem Menschen vorhanden ist. Das machen wir uns nur nicht gerne klar.
Die Parallelen des Films zum viel diskutierten Entführungsfall Jakob von Metzler sind nicht zu übersehen?
Für diesen Film wurde genau recherchiert, dass die Polizei niemals Gewalt androht wie es der Kommissar Daschner tat, um Jakobs Leben zu retten. Bei Zuschauern stößt dies oft auf Unverständnis. Über die Auseinandersetzung mit diesem Film kann ihm klar werden, warum das Folterverbot gilt. Wenn wir diese Tür aufmachen, landen wir schnell in einem Polizeistaat.
Wird diese Vorstellung der Gewaltanwendung nicht auch durch fiktionale Stoffe unterstützt?
Ich denke eher, dass es unseren Bedürfnissen entspricht. Das Alte Testament ist uns sehr nahe, das Neue Testament noch immer eine Utopie.
Als ihr Filmsohn gibt ihr eigener Sohn Jakob Walser, der derzeit am Theater in Wuppertal verpflichtet ist, sein Bildschirmdebüt. Haben Sie ihn empfohlen?
Das würde er nicht wollen, ich nicht tun und kein Regisseur würde das akzeptieren. Klaus Krämer kennt mich über einige gemeinsame Projekte gut und wusste, dass mein Sohn Schauspieler ist. Er lud ihn zum Vorsprechen ein, weil er jemanden suchte, der mir in der Haltung und in den Gesten ähnlich ist.
Das Psychodrama „Machtlos“ setzt eine neue Facette am ARD-Krimi-Sonntag. Sie waren selbst zwanzig Mal im „Polizeiruf 110“ als einarmiger Kommissar Tauber im Einsatz. Hätten Sie sich solche neuen Reize gewünscht?
Ich hatte mit der Redakteurin des BR großes Glück, weil sie die Figur bei jeder Folge auf Null gestellt hat und es möglich war, neue Seiten zu entwickeln. Trotzdem schien die Figur für mich zu Ende erzählt. Wenn ich in ein neues Projekt gehe, brauche ich den Kick der Unwissenheit – also nicht zu wissen, was da an Abgründen aus mich zukommt.
Kommen wir zu Wagner, haben Sie sich sofort in der Rolle gesehen?
Ich war skeptisch. Der Mann war kleiner, ich spreche kein Sächsisch, habe keine Hakennase und bin nicht Pockennarbig. Vom Äußeren her stimmte nichts. Aber diese Wut Wagners auf alles, was einem vor der Nase sitzt, und der Wille, seinen eigenen Ausdruck zu finden, kann ich gut nachempfinden.
Sie haben Klavier studiert. Sind Sie Opernfan?
Das Anstehen für Karten und das gesellschaftliche Drumherum haben mich lange abgeschreckt. 2008 erhielt ich die erste Einladung nach Bayreuth – seitdem mag ich die Musik von Wagner sehr. Diese. gewaltigen Bögen, mit denen er die Dramen erzählt, kann man ja nur verstehen, wenn man die Opern als Ganzes wahrnimmt.
Wie gut kannten Sie seine Biografie?
Sie war mir kaum bewusst. Daher war es jetzt spannend, sich mit der Zeit der Entstehung des Kapitalismus, der bürgerlichen Revolution und der Gründung des Deutschen Reichs zu beschäftigen. Wagner stand 1848/49 auf der linken Seite. Jahrzehntelang wurde er als Terrorist steckbrieflich gesucht. Er hatte Schulden. Seine Werke wurden nicht anerkannt, weil sie musikalische Hörgewohnheiten durchbrachen. Für einen Komponisten muss es furchtbar sein, wenn die Menschen bei den Klängen seiner Musik in Gelächter ausbrechen.
Hat Ludwig Wagners Leben gerettet?
Als Ludwig ihn zu sich an den Hof holte, war Wagner am Ende. Wegen seiner Schulden musste er aus Wien fliehen. Als dieser junge König ihm anbietet, die materiellen Voraussetzungen für seine weitere Arbeit zu schaffen, ist das eine neue Lebenschance. Aber er war auch klug genug, sich nicht instrumentalisieren zu lassen.
Der Film erweckt sogar den Eindruck, dass Ludwig in Wagner den lange vermissten Vater fand?
Der Film nimmt sich in Bezug auf die Fakten kaum Freiheiten und die Vater-Sohn-Beziehung liegt auf der Hand. Ludwig hatte nie einen Vater, der für seine Gefühlleben Verständnis gezeigt hat. .Dieses Bedürfnis füllt Wagner aus. Kompliziert ist, dass Ludwig für Wagner der Arbeitgeber ist. Das ist fast eine umgekehrte Vater-Sohn-Beziehung. Sie kommen aber aus verschiedenen Klassen, und vor allem steht Wagner mit beiden Beinen im Leben und weiß zwischen Bühnenmärchen und Realität zu unterscheiden. Ludwig hat eine undistanzierte Beziehung zum Bühnengeschehen und zieht diese Wirklichkeit der eigenen Realität vor. Der Ausgangspunkt für die Annäherung ist daher völlig verschieden. Aber die Emotionalität stimmt. Wagner ist berührt von der Hingabe, die Ludwig für seine Musik hat.
Unser Wagner-Bild ist auch geprägt von seinem Antisemitismus, der nicht erwähnt wird?
In einem Film über Ludwig kann dieser Aspekt keinen Platz finden. Ludwig hat sich schützend vor Minderheiten gestellt, als Homosexueller gehörte er selbst zu einer verfolgten Gruppe. Seine sexuelle Vorliebe wollte er auch auf Grund seines religiösen Weltbilds nicht ausleben. Daher kann man sich nur schwer vorstellen, dass Wagner ihm gegenüber herabsetzend über Juden gesprochen hätte. Das gilt ja für uns alle. Was wir sagen, wird bestimmt durch den Partner, mit dem wir reden.
Sie sprechen Ludwigs Homosexualität an, die den Film von Visconti prägte. Soll sich dieser Film auch bewusst davon absetzen?
Visconti hat sich als Homosexueller mit Ludwig identifiziert und sieht ihn als Opfer der Dekadenz. Deshalb sind Cosima und Wagner bei ihm ein finsteres Gaunerpärchen. Diesen persönlichen Ansatz kann ich verstehen, doch dieser Film versucht, den wirklichen Fakten Rechnung zu tragen.
Aber lockt das 20 bis 30jährige ins Kino?
Das glaube ich schon. Ludwigs Leben gleicht in vielerlei Hinsicht dem einer Pop-Ikone. Die Versessenheit auf eine künstliche Welt, seine Einsamkeit, wie er fasziniert ist von seiner eigenen Persönlichkeit – da denke ich schon manchmal an Michael Jackson. .
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