Eine Illusion innerhalb der Illusion
Ang Lee über seinen neuen Film „Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“
Lee: (lacht) Nein, war es nicht. Als ich das Buch vor zehn Jahren las, habe ich es an meine Frau und meine Kinder weitergereicht, und wir haben viel darüber gesprochen. Aber einen Film habe ich darin nicht gefunden. Vor viereinhalb Jahren wurde es mir dann vom Studio angetragen. Ich war noch bei der Arbeit an einem anderen Film und hatte acht Monate, mir darüber Gedanken zu machen. Am Ende war es gerade die Herausforderung, die mich reizte. Es ist ein Buch über Illusionen, über abstrakte Ideen, die sich nicht beweisen lassen. Ich bin Filmemacher, ein Erzähler von Geschichten, ein professioneller Hersteller von Illusionen. Hier ging es also darum, mit den Mitteln des Illusionisten eine Illusion innerhalb der Illusion herzustellen. Das hat mich gereizt.
Und damit waren alle Bedenken verflogen?
Nein, die lange Passage auf dem offenen Ozean war immer noch ein Problem. Das hätte auch unglaublich langweilig werden können. Wasser, Wasser, immer nur Wasser. Darüber habe ich mit Tom Hanks viel gelacht (der in „Cast Away - Verschollen“ eine Robinson Crusoe-Rolle auf einer einsamen Insel spielte): wie steht man so viel Wasser durch? 3D war die Lösung. Ich hatte ein paar interessante Animationsfilme gesehen, die 3D-Effekte nutzten. Der Realfilm war noch nicht so weit, da wurden eher Horror- oder Actionfilme in 3D gedreht. Mir aber hat 3D die Möglichkeit gegeben, das Wasser lebendig zu machen. Am Ende musste ich nur noch durchsetzen, dass man mich den Film weit weg von Hollywood drehen ließ, weil ich die Sache auf meine Weise angehen wollte.
Sie haben im heimischen Taiwan gedreht, aber auch am Ausgangsort der Handlung, im indischen Pondicherry. Was war Indien für Sie?
Indien war mir gleichzeitig sehr fern und sehr nah. Die konservative, prüde Seite war mir vertraut, ich stamme ja auch aus Asien. Aspekte von Philosophie und Religion natürlich auch, denn auch da gibt es durch den Buddhismus starke Überschneidungen zwischen Indien und Taiwan. Und die Breiten, durch die Pi treibt, das ist der nördliche Wendekreis, auf dem auch Taiwan liegt. „Life of Pi“ ist ein asiatischer Roman, also sollte er in Asien gedreht werden. Ich habe Hollywood einfach mit nach Asien genommen, die Technologie, die technische Perfektion.
„Life of Pi“ ist ein Film über den Glauben, über Gott. Ist Ihnen das wichtig?
Das Buch stellt Überlegungen an über Gott. NICHT über Religion – ein wichtiger Unterschied. Es geht um Gott, um ein Abstraktum, eine unbekannte Größe. Für mich ist das, was wir Gott nennen, eine Bezeichnung für unsere Gefühle gegenüber dem Unbekannten. Weil man nicht anfassen, nicht beweisen kann, was da jenseits des Bekannten ist, weil es abstrakt bleibt, so sehr wir es auch fassen möchten, sind wir im Umgang mit diesem Unbekannten auf unsere Gefühle zurückgeworfen. Niemand hat eine „richtige“ Antwort auf diese Fragen. Mir ist auch kein brennender Dornbusch erschienen, ich kann Ihnen keine letztgültige Antwort überbringen. Ich kann Sie nur auf Pis Reise mitnehmen und seine Zweifel mit Ihnen teilen - und seine Einsichten. Ich selbst wurde christlich erzogen wie meine Mutter, aber in Taiwan kommt man mit vielen verschiedenen Religionen in Berührung. Mit vierzehn habe ich mit dem Beten aufgehört. Heute würde ich mich als Agnostiker bezeichnen.
Auf ganz praktischer Ebene, was reizt einen Regisseur, der sonst noch nicht mal ein Storyboard benutzt, ausgerechnet an einem Film wie diesem, in dem Computereffekte eine so große Rolle spielen und selbst der Tiger im Boot meist keine reale Katz ist, sondern nur ein lebensechtes Abbild aus dem Computert?
Auf der einen Seite macht gerade dieser hohe Grad an Abstraktion die ganze Sache künstlerisch anspruchsvoller. Weil man eben nicht hingeht und einfach abfilmt, was ohnehin da ist, war die eigene Fantasie in besonderem Maß gefordert. Auf der anderen Seite war es tatsächlich ein mühevoller Prozess. Film ist eine kostspielige Kunst, da sind jedesmal hunderte von Menschen involviert, und eine gewisse Vorausplanung ist schon deshalb nötig, weil man ja sein Budget bewilligt bekommen möchte. So gar nicht wie der Pianist am Klavier oder der Maler allein vor seiner Leinwand. Es kann schon ganz schön quälend sein. Jeden einzelnen Schritt benennen und planen zu müssen, und dabei trotzdem am Ende mehr herauszubekommen als die bloße Summe vieler mechanischer Teile, das ist eine echte Herausforderung.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen, die Bilder dieses Films wird man so schnell nicht vergessen. Aber haben Sie bei einem solchen Produktionsapparat die Freiheit nicht vermisst, kurzfristig neue Entscheidungen fällen und auch mal improvisieren zu können?
Natürlich habe ich die vermisst. Ich komme von der dramatischen Seite, weniger von der Seite der Bilder. Mein Beitrag zur künstlerischen Seite eines Films hat normalerweise mehr mit dem Proben mit den Schauspielern zu tun, mit dem Finden des Wegs für den Film. Hier war die visuelle Seite bei der Vorbereitung ungleich wichtiger. Das wäre bei diesem Buch aber auch kaum anders gegangen. Wenn man mit so wenigen Elementen arbeitet: ein Junge, ein Tiger, ein Boot, muss man sich schon ein paar Gedanken darüber machen, wie man den Sinnzusammenhang zwischen ihnen filmisch übermittelt.
Ang Lee gehört zu den meist-prämierten Regisseuren des marktgängigen Weltkinos. In Taiwan geboren und aufgewachsen, lebt und arbeitet er heute in den USA. Die Spannbreite seiner Filme reicht vom taiwanesischen Schwulendrama („Das Hochzeitsbankett“) bis zur hochgelobten Jane Austen-Adaption („Sinn und Sinnlichkeit“), von der Comic-Verfilmung („Hulk“) bis zum Sezessionskriegsdrama („Ride with the Devil“), vom erotischen Spionagethriller („Gefahr und Begierde“) bis zum schwulen Kultwestern („Brokeback Mountain“). Mit „Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“ hat er seinem Werk eine weitere Facette hinzugefügt: die unerwartet bildgewaltige Reise eines Jungen und einer Raubkatze in einem Boot ganz allein auf dem Ozean.
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