Krank ohne Befund

Ein Arzt aus Österreich will mit besserer Diagnose die Behandlung optimieren

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 5 Min.
Ungefähr jeder dritte Patient, der seinen Hausarzt wegen körperlicher Beschwerden aufsucht, gilt am Ende als »krank ohne Befund« - oft nach langwierigen, teuren und sinnlosen Untersuchungen. Die Probleme verschwinden aber nicht, weil sie psychischer Natur sind.

Da ist zum Beispiel Frau Sommer, die in Wahrheit anders heißt. Zum Erstgespräch in die Psychosomatische Abteilung des Salzburger Universitätsklinikum kommt sie mit etlichen Beschwerden. Unentwegt habe sie das Gefühl, ihre Blase entleeren zu müssen, gleichzeitig das Empfinden, laufend Urin zu verlieren. Hinzu kommen Bauchschmerzen und Darmkrämpfe sowie weitere durch den ganzen Körper wandernde Schmerzen. Außerdem kann die Kindergärtnerin Frucht- und Milchzucker nicht vertragen und ohnehin nur kleinste Portionen essen, sonst rast ihr Herz und ihr wird schwindlig.

An Patienten wie ihr kann sich das gesamte Diagnose- und Therapiespektrum moderner Apparatemedizin austoben - und das mit ebenso erheblichen wie sinnlosen Kosten für die Versichertengemeinschaft. Typischerweise haben sie einen allseits erschöpfenden Ärztemarathon hinter sich. Für Psychosomatiker hingegen, also für Fachleute für leib-seelische Zusammenhänge, sei »deutlich spürbar, dass die Patientin Schutz, Geborgenheit, Klarheit, Stärke und Beistand sucht«, schreibt der österreichische Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut Manfred Stelzig. In seinem neuen Buch »Krank ohne Befund« prangert der Chefarzt der Psychosomatik an der Salzburger Uniklinik eine seiner Ansicht nach noch immer sehr mangelhafte Behandlung von Krankheiten an, die sich zwar körperlich äußern, aber seelische Ursachen haben.

Psychosomatik
In Deutschland sieht die Approbationsordnung für Ärzte das Fachgebiet »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie« als eines von 22 Prüffächern vor, doch sei »kein zeitlicher Rahmen für die Vermittlung psychosomatischer Kompetenzen festgelegt«, so Samir Rabbata von der Bundesärztekammer. Die Ausbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin schließe »zahlreiche Inhalte zur Psychosomatik« ein, vor allem den vorgeschriebenen 80-stündigen Weiterbildungskurs »Psychosomatische Grundversorgung«. Während ihrer 24-monatigen praktischen Weiterbildung in hausärztlichen Praxen haben angehende Allgemeinärzte die Chance, ihr Wissen über Psychosomatik auszubauen, freilich abhängig vom Sachverstand des jeweiligen Arztes, von dem sie lernen.

Ausgewiesene »Fachärzte für Psychosomatische Medizin« müssen sich über das Arztstudium hinaus fünf Jahre lang weiterbilden, davon drei Jahre in Psychosomatischer Medizin (davon zwei Jahre im Stationsdienst), ein Jahr in Psychiatrie und Psychotherapie sowie ein Jahr in Innerer Medizin. was

 

Frau Sommer ist insofern ein typischer Fall, als sie in ihrer Kindheit zu wenig berührt worden ist. Denn Halt und Rückhalt am Körper zu erfahren, ist längst nicht allen Kindern vergönnt - woraus ein Leben lang viel Leid erwachsen kann. Ob wir uns als Erwachsene wohl in unserer Haut fühlen, hängt wesentlich davon ob, ob unsere zarte Hülle in Kindertagen ausreichend berührt, gestreichelt und anderweitig liebkost worden ist. Hautkrankheiten kommen bei Menschen mit psychischen Problemen deutlich öfter vor.

Leider hatte Frau Sommer eher distanzierte Eltern. Beide waren Lehrer und »immer sehr korrekt und auf Ordnung bedacht«. Ihre Tochter kann sich nicht daran erinnern, dass es in ihrer Familie körperliche Berührung gab. Fallgeschichten wie diese kennen die meisten psychosomatisch geschulten Mediziner. Was hier gefehlt hat, liegt auf der Hand: eine von Mutter und Vater frühzeitig und immer wieder glaubhaft gewährte menschliche Wärme. Nur eine »jahrelange, aufwendige Psychotherapie« könne Stelzig zufolge der buchstäblich Haltlosen helfen, den ihr früher verwehrten Halt auf liebevolle Weise in sich selber aufzubauen, bei Bedarf abzurufen und so unabhängiger vom Zuspruch anderer zu werden.

Quer durch das Buch spürt man Unmut und Zorn des Autors über die Missstände des Gesundheitswesens. Stelzig hat viele Patienten erlebt, die nach meist erfolglosen, oft jahrelangen und kostspieligen Behandlungen an diversen Organen irgendwann bei ihm landen - noch immer verzweifelt auf der Suche nach der Ursache ihrer Beschwerden. In Frage kommen zum Beispiel eine Angststörung, eine über den Körper sich ausdrückende, maskierte Depression oder ein unbehandeltes Psychotrauma. Solange die Seele nicht ergründet wird, schmerzt und spinnt der Körper.

Aus langjähriger Erfahrung weiß Stelzig, dass die richtige Diagnose »bei mehr als der Hälfte der Betroffenen nicht gestellt« wird. Deren zermürbende Behandlungsodyssee vom Internisten über den Orthopäden hin zum Kardiologen und oft wieder zurück lässt dem Salzburger Psychosomatiker keine Ruhe mehr. Dabei gebe es seit etlichen Jahren einschlägige Fachliteratur. Seit 1992 sind die sogenannten somatoformen Erkrankungen - also solche ohne klaren organischen Befund - im weltweit anerkannten Krankheitsverzeichnis, dem ICD-10, aufgeführt. Doch nach wie vor zähle »für sehr, sehr viele Ärzte noch immer nur die organische Seite«, ärgert sich Stelzig. Schuld an der Misere sei vor allem ein »krasses Missverhältnis zwischen der Ausbildung der Ärzte und der Anzahl der Patienten, die an psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen leiden« und deswegen die Sprechstunden von Haus- oder Fachärzten bevölkern. In Österreich müssten Allgemeinärzte während ihrer langjährigen Ausbildung »gerade einmal zwei Monate Spezialtraining« in der Neurologie oder Psychiatrie absolvieren - aber 30 Prozent ihrer späteren Patienten kommen wegen seelisch verursachter Leiden.

Bei solchen Menschen hilft es aber meist nicht, die Blutwerte zu kontrollieren, ein EKG anzufertigen oder sie in die Röhre des Computer-Tomographen zu schieben. Ihnen muss der Arzt vor allem zuhören und behutsam nachfragen. Wie Stelzig plädiert auch die Gynäkologin Annette Güntert von der Bundesärztekammer für einen größeren Stellenwert der sprechenden Medizin. Das Arzt-Patienten-Gespräch als wichtiges, wenn nicht gar wichtigstes Diagnoseinstrument müsse aber auch deutlich besser bezahlt werden als heute - kein Problem, denn viele teure und überflüssige Behandlungen ließen sich so einsparen.

In Deutschland werden Stelzig zufolge die Allgemeinmediziner und Fachärzte psychosomatisch »nicht viel besser« geschult als in Österreich. Dass Allgemeinärzte zwischen Füssen und Flensburg lediglich 80 Stunden Psychosomatik büffeln müssten, sei »lächerlich« mit Blick auf den großen Anteil an Patienten, die mit psychisch verursachten Beschwerden ihre Hausärzte aufsuchen.

Dummerweise treffen noch viel zu häufig psychosomatisch blinde oder zumindest sehbehinderte Mediziner auf Patienten, die von einer unglücklichen Ehe, verdrängter Trauer oder stummer Wut als Ursache ihrer Leiden nichts hören wollen. »Die Patienten verbeißen sich gerne in die Vorstellung, es müsse etwas Organisches sein«, sagt Stelzig. Sie hätten Angst, als seelisch krank zu gelten - oder gar als Simulanten.

Mit seinem Buch will Manfred Stelzig dabei helfen, »Patientenkarrieren in Zukunft zu verkürzen, indem die Weichen so schnell wie möglich in die richtige Richtung gestellt werden«. Mit gut geschulten Ärzten im Stellwerk könne das »den Betroffenen und auch ihren Angehörigen jahrelanges Leid und Kummer ersparen«.

Manfred Stelzig: Krank ohne Befund. Eine Anklageschrift, Ecowin Verlag, 256 S., 21,90 €.

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