Was einem kleinen Mädchen geschieht

Pola Kinski will einen Mythos zerstören und erhebt schwere Vorwürfe gegen ihren Vater

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 5 Min.

Auf der Terrasse des Hauses in München steht das wunderschöne Fahrrad von »Babbo«, so soll sie den Vater nennen: Er und Mama sind geschieden. Spaziergang mit Mama im Englischen Garten, Laubhaufen mit den Füßen aufwirbeln, seltene Momente der Nähe. Nackt auf der Behandlungspritsche, zitternd vor der großen Spritze, die der Arzt gleich setzen wird - ihr chronisch betrunkener Großvater, bei dem sie und Mama jetzt wohnen. Am Residenztheater eine Kinderrolle, ein Prinzessinnenkleid mit Spitzen und Rüschen, dazu einen Strohhut mit blauem Bändchen. Erster Schultag und erste Freundin. Mama hat einen neuen Freund, er heißt Heinrich, sie heiraten und ziehen um, dann wird ein Brüderchen geboren ...

Szenen einer Kindheit, hingetupft. Wie ein impressionistisches Gemälde. Da sind Farben, Schatten und Licht, die Empfindungen eines kleinen Mädchens. Pola Kinski, 1952 in Berlin geboren, älteste Tochter des Schauspielers Klaus Kinski, zieht einen mit ihrem Erinnerungsbuch in diese Kindheit hinein. Wenn »Mama« ihr zum Beispiel nahelegt, dankbar dafür zu sein, dass der Stiefvater sie »mitgeheiratet« habe, spürt man die Kälte, die das kleine Mädchen in der neuen Familie umgibt. Eisig weht es einen an, liest man, wie sie die »gemeinsamen« Mahlzeiten schildert: »Mama, Heinrich und mein kleiner Bruder im Kinderstuhl sitzen um den Küchentisch herum. Sie lachen, plappern, haben Spaß miteinander. Für mich ist da kein Platz. Deshalb ziehe ich dreimal am Tag das Brett aus der Arbeitsfläche über dem Mülleimer heraus. Ich stelle meinen Teller drauf und schiebe den dreibeinigen Hocker unter meinen Po ... Für mich ist das normal, ich kenne es nicht anders.« Dann allerdings gibt es Szenen, in Variationen wiederkehrend, die mehr über Pola Kinski selbst als über ihre Mutter erzählen und sich auch nicht aus diesem schwierigen Verhältnis erklären. Da sieht sich die Sechsjährige, am Fenster stehend, auf der Terrasse Fahrrad fahren. »Elegant, aufrecht wie eine Zirkusartistin, mit seitlich ausgestreckten Armen. So als hätte ich nie etwas anderes gemacht, rolle ich über die Tauben, es knirscht, wenn ich sie zerquetsche ... Hin und her und her und hin, immer wieder. Ich muss sie alle erwischen. Alle!« Ein Stück Vater in ihr? Angesichts des Kontextes, wagt man kaum, es so zu formulieren.

Denn die Geschichte der Kindheit, die Pola Kinski erzählt, ist eine Geschichte des Missbrauchs. Bereits in seiner Biografie »Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund« hatte Kinski damit geprahlt, mit seiner Mutter, seiner Schwester und seiner jüngeren Tochter Nastassja geschlafen zu haben - was ihm damals niemand glaubte und was Nastassja Kinski dementierte. Nun berichtet Pola Kinski, der »Erdbeermund«, nach dem ihr Vater gierte, war tatsächlich - ein »Kindermund«: ihrer. So ist das Buch, das sie sich jetzt von der Seele geschrieben hat, nicht nur ein Erinnerungsbuch, sondern ein Enthüllungs- und Abrechnungsbuch.

Von der Mutter fühlt sie sich abgelehnt, aber es gibt ja noch »Babbo«, der sie liebt. Er umwirbt sie, überhäuft sie mit teuren Geschenken. Sie ist mit ihrer Freundin Michaela in der Badeanstalt, gerade haben sie ein Capri-Eis gegessen, da lauert er ihr auf. Umarmt sie wie immer viel zu stürmisch, ruft »Mein Geliebtes, mein Engelchen, mein Püppchen!«, drückt sie in seine Limousine und führt sie in ein Restaurant, anschließend in seine Hotelsuite. Dort soll er sich erstmals an ihr vergangen und sie von da an vierzehn Jahre lang missbraucht und vergewaltigt haben. Überallhin befiehlt er sie: nach Berlin, Rom und Paris, zu Dreharbeiten nach Madrid. Ein Albtraum - die »zufälligen« Berührungen, die Angst, der Ekel und Selbstekel. Aber dann kauft ihr »Babbo« in »edlen Geschäften die schönsten Dinge der Welt«. Er wählt ihr die Kleidung aus, die Hemdchen, Schlüpfer, Riemchenschuhe, die Gewänder in zarten Farben. Eine Luxuswelt aus Damast und Seide, Kaviar, Hummer und Tellertürmen, »von denen Trauben wie von Bäumen hängen«. Niemand wagt, sich ihm zu widersetzen, dem Egomanen, Exzentriker, dem Kontroll- und Tollwütigen. Er schmeichelt, grapscht, brüllt, peinigt, verletzt - den Körper seines »Püppchens« und dessen Seele.

Pola Kinski wirft ihrem 1991 verstorbenen Vater vor, ihr Leben zerstört zu haben. Wird man Klaus Kinski nun neu bewerten müssen? Treffen ihre Vorwürfe zu, dann war das Enfant terrible des deutschen Films ein Kinderschänder, ein Krimineller.

Was zu der Frage führt, ob das im Nachhinein seine Kunst beschädigt. Das Werk des ebenfalls kriminellen Dichters Francois Villon, den Kinski meisterlich zu interpretieren wusste, hat jedenfalls überdauert. Auch die Filme von Regisseur Roman Polanski, 1977 in Los Angeles wegen Vergewaltigung eines damals dreizehn Jahre alten Mädchens angeklagt, werden dessen ungeachtet von Fachwelt und Publikum gefeiert. Den Schauspieler Kinski jedoch wird man erst einmal anders sehen. Er sei zu Hause wie in seinen Filmen gewesen, sagte Pola Kinski dieser Tage in einem Interview. Hat er dann nur sich selbst gespielt? Rechtfertigt Genie den Wahnsinn? Zu befürchten steht leider auch, dass die Demaskierung seiner Person bei gewissen Fangruppen einen neuen Hype auslöst.

Wenn über den Täter Klaus Kinski zu sprechen war, dann weil er im Buch der Tochter seine letzte Rolle spielt. Die Hauptrolle aber spielt Pola Kinski. Ihr Buch ist mehr als Enthüllung und Abrechnung, es hat literarischen Wert. Es ist die sensible Erzählung davon, was kleinen Mädchen geschehen kann und was es aus ihnen macht.

Aus Pola Kinski hat es eine junge Frau gemacht, die mit dem Leben in München nicht mehr zurechtkam, in verschiedene Internate gesteckt wurde, sich dort mit beliebigen »Kerlen« herumtrieb und Alkoholexzessen hingab: »... wenn einer mich anfasst, fühle ich mich am Leben«. Erst vierzig Jahre nach Ende des Missbrauchs macht sie diesen öffentlich, auch, um gegen einen Mythos anzuschreien. Ihre Mutter erklärte jetzt, vom Martyrium ihrer Tochter keine Ahnung gehabt zu haben, die habe nie ein Wort gesagt und sei doch immer gern zum Vater gefahren. Nastassja Kinski dagegen nannte die Halbschwester eine Heldin. Pola Kinski ist verheiratet und hat drei Kinder.

Pola Kinski: Kindermund. Insel-Verlag, Berlin 2013, 267 Seiten., 19.95 €.

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