»Ich weiß, wie verführbar Menschen sind«

Max Mannheimer überlebte Theresienstadt und Auschwitz - und kehrte ins Land der Täter zurück

  • Lesedauer: 6 Min.

nd: Herr Mannheimer, 1942 wurden Sie gemeinsam mit Ihrer Familie nach Auschwitz-Birkenau gebracht. Wussten Sie da schon, was dies bedeutete?
Mannheimer: Es hieß, Juden kämen zum Arbeitseinsatz in den Osten. Da das Naziregime darauf verzichtete, Vernichtungslager in Deutschland zu errichten, konnte die Lüge bei der Zivilbevölkerung lange aufrecht erhalten werden. Wirklich alarmiert waren auch wir erst, als mein Bruder Ernst in Ungarisch-Brod von der Gestapo verhaftet wurde. Dies öffnete uns endgültig die Augen und wir schlossen eine Deportation nicht mehr aus. Wir wussten bereits, dass Hitler Deutschland »judenfrei« machen wollte. Aber erst auf dem Transport nach Auschwitz beschlichen mich erhebliche Zweifel und mir wurde klar, dass mit uns Juden etwas Schlimmes geschehen würde. Ich hatte erstmals große Angst.

Im KZ übernahmen Sie die Verantwortung für Ihre jüngeren Brüder Edgar und Ernst. Half Ihnen das, Auschwitz zu überleben?
Ohne meinem Bruder Edgar hätte ich die Zeit in den Lagern nicht überstanden. Eigentlich wollte ich mich unmittelbar nach dem ersten Morgenappell in Auschwitz, nachdem die erste Selektion stattgefunden hatte, in den elektrischen Zaun um das Lager werfen. Denn ich erkannte, dass wir in ein Inferno gekommen waren und flüsterte meinem Bruder zu: »Du wirst sehen, wir werden Schaufeln bekommen und unser eigenes Grab schaufeln. Am besten wäre es, ich ginge zu den Drähten hin, berühre sie und aus.« Da fragte er, der Siebzehnjährige, mich den Dreiundzwanzigjährigen: »Willst du mich alleine lassen?« Da habe ich mich sehr geschämt, dass ich meine zwei jüngeren Brüder verlassen wollte. Und meine Einstellung hat sich gründlich geändert. Ich sagte mir, dass ich als Ältester meine jüngeren Brüder beschützen muss. Und ausgerechnet mein jüngster Bruder Edgar machte mir immer wieder Mut. Er war überzeugt, dass wir überleben würden.

Ihre Eltern, Ihre Frau Eva, Ihre Schwester und Ihre Schwägerin wurden im Februar 1943 in Birkenau in die Gaskammer geschickt. Später mussten Sie mit ansehen, wie Ihr Bruder Ernst selektiert wurde. War das der Moment, als Sie Ihren Glauben an Gott verloren haben?
Meinen Glauben hatte ich schon vorher verloren. Ich fragte mich, wie kann es einen Gott geben, wenn er dieses Morden zulässt. Trotzdem betete ich jeden Abend nach jüdischer Tradition das Schma Jisrael.

Wie oft sind Sie in Auschwitz der Selektion entgangen?
Ungefähr zehnmal.

Wie würden Sie die Aufseher und SS-Leute beschreiben?
Unmenschlich, grausam, brutal, sadistisch. Das Paradoxe war, es waren »normale« Männer, die nach 1945 wieder »anständige« Deutsche waren. Während die SS-Aufseher uns bei der Arbeit bewachten, bedrohten sie uns, es gab Knüppelschläge, sie hetzten Hunde auf die Häftlinge. Wenn jemand während der Arbeit zusammenbrach, wurde er mit Kolbenschlägen wieder angetrieben oder erschossen.

Gab es auch den »guten Nazi«?
Das war die absolute Ausnahme. Zu dieser Ausnahme gehörte ein 18-jähriger Blockführer, der uns immer ganz besonders anschrie. Einmal befahl er mir in seinem üblichen lauten und schneidenden Ton, zu ihm zu kommen. Leise sagte er dann zu mir: »Sagen Sie Ihren Kameraden, dass ich nicht freiwillig zur SS gegangen bin. Dass ich mit jüdischen Kindern in Berlin aufgewachsen und mit ihnen befreundet gewesen bin. Ich habe noch nie einen Häftling geschlagen und werde es auch nicht tun. Wenn ich so brülle, dann tue ich das, damit man mich nicht für unfähig hält und meines Postens enthebt.« Dieses Bekenntnis war wie ein Geschenk für mich, größer als jede zusätzliche Brotration. Weil er in uns Menschen sah und er uns nicht demütigen wollte, wie die meisten anderen. Es war eine der wenigen guten Erfahrungen im Lager.

Sie klagen in Ihren Memoiren niemanden an. Warum nicht?
Ich habe nie gerichtet oder verurteilt, weil ich weiß, wie verführbar Menschen sind. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wäre ich nicht als Jude geboren worden. Vielleicht wäre ich als Befehlsempfänger oder als Schweigender mitverantwortlich für das Leid anderer Menschen geworden. Mir ging und geht es nicht um Rache und Vergeltung, sondern um Verständigung und Aussöhnung.

Warum sind Sie nach Deutschland, ins Land der Täter, zurückgekehrt?
Ich befand mich in einem inneren Zwiespalt, die Nazis hatten sechs meiner engsten Angehörigen ermordet. Aber meine zweite Frau Elfriede versicherte mir, dass Deutschland Chancen habe, eine Demokratie zu werden. Und ich glaubte ihr. Ich erinnerte mich, dass es erst viele nichtjüdische Deutsche waren, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, die verhaftet wurden. Und dass es Deutsche gab, die Juden retteten.

Wollten die Deutschen nach dem Krieg von Ihnen wissen, was in Auschwitz passiert war?
Sie waren nicht daran interessiert. Man verdrängte die Vergangenheit, und war mit dem eigenen Weiterleben und dem Wiederaufbau beschäftigt.

Wie oft haben Sie nach dem Krieg noch Antisemitismus zu spüren bekommen?
Das kam öfters vor. 1954 probierte ich in der Kabine eines Münchner Konfektionshauses ein Sakko an. Als ich nach verschiedenen Größen verlangte, hörte ich, wie der Verkäufer sich bei seinem Kollegen über den »Saujuden« beschwerte. Die Firma wollte den Verkäufer entlassen, aber ich intervenierte. Es gab auch, vor allem dann, als meine Frau Stadträtin der SPD in München war, anonyme Droh- und Schmähschreiben.

Viele Nazis gelangten nach dem Krieg wieder in hohe Positionen. Wie konnten Sie das ertragen?
Es ging den Deutschen nicht um Reue, sie verleugneten ihre Täter- bzw. Mittäterschaft. Den Verzicht auf klare Grenzen gegenüber der NS-Vergangenheit empfand ich als große Belastung für das Selbstverständnis, die politische Moral und die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik. Vielen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern gelang es nach 1945, sich einen sogenannten Persilschein zu beschaffen. Sie kamen damit bald wieder in gehobene Ämter und Funktionen. Auch damals gab es schon die Forderung nach dem Schlussstrich.

Ich verkehrte deshalb anfangs nur in jüdischen und sozialdemokratischen Kreisen. Wenn ich mit unbekannten Menschen Kontakt hatte, sagte ich ihnen, dass ich Jude sei. Das sollte mich vor antisemitischen Äußerungen schützen und funktionierte auch meistens.

Und Sie sprachen lange nicht über Ihre traumatischen Erlebnisse in den Lagern?
Ich wollte meine Familie schützen, sie vor den schmerzhaften Erfahrungen abschirmen und sie nicht mit meiner Vergangenheit belasten. Ich sprach über meine Erfahrungen lediglich mit meinen Häftlingskameraden, nur mit ihnen konnte ich offen reden.

Haben Sie in Ihrem Buch jetzt alles aufgeschrieben, was Sie erlebten?
Nein, nicht alle Gewalttaten, die ich erleben beziehungsweise mit ansehen musste, wie öffentliche Folterungen und Hinrichtungen. Meine Erfahrungen in allen Details darzustellen, wäre zu schmerzhaft für mich gewesen - und auch für meine Kinder.

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