Kerle, Killer, Kameraden
Volker Lösch inszenierte an der Berliner Schaubühne »Draußen vor der Tür« von Wolfgang Borchert
Zu laut, zu deutlich, zu nackt! Der Theaterdirektor zetert, windet sich gequält in der Pose seiner Schmiere. Das ist doch keine Kunst!, was ihm Beckmann da an Gräuelgeschichten seines Kriegstraumas erzählt. Aber es ist die Wahrheit!, schreit Beckmann zurück. Der Direktor krümmt sich, kichert. Damit auf eine Bühne? Nein, zu laut, zu deutlich, zu nackt!
Im bitteren Ablauf der Dinge fast ein Moment kalter Selbstironie: Denn es sind sehr präzise Kennungen für das harsche, chorisch wummernde, Plakate an alle Stirnen wuchtende Theater von Volker Lösch. An Berlins Schaubühne inszenierte er nun Wolfgang Borcherts »Draußen vor der Tür«, Bühne: Carola Reuther. Die Fassung, die der Regisseur wieder gemeinsam mit Stefan Schnabel erarbeitete, treibt in Borcherts Drama folternde Keile hinein, schier unerträgliche Texte aus dem Buch »Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben« von Sönke Neitzel und Harald Welzer: heimlich abgehörte deutsche Soldatengespräche in US-amerikanischen Lagern. Der russische Erschießungsspaß. Das Judenweiberficken. Die Massengrabtechnologie. Kerle, Killer, Kameraden. Hui, der Ekel hat Erektion.
Es geht nicht um Borchert, es geht um uns. Indem es um uns geht, behält Borchert Sinn. Borchert und sein Stückheld, das geschundene Stück Menschenfleisch Beckmann. Der Ostfront-Soldat, den sich der Dichter aus seinen Alpträumen herausgeschrien, herausgeschrieben hat. 1947 erlebte Borcherts »Draußen vor der Tür« seine Uraufführung - einen Tag nach dem Tod des 26-Jährigen.
Mitleid mit Beckmann? Unbedingt. Aber vor dem Mitleid, was war da? Krieg! Wir sehen diese riesige schwarz-rot-goldene Bühnengrundfläche, flauschig, Stoff, der Lust hat, alles zu schlucken, Teppich, unter den der Mensch schnell gekehrt ist; wir sehen den Chor, fünf Männer und zwei Frauen, Stimmen von der Front, Stimmen des Wahns, Einflüsterungen, die sich mischen, Schreie, die in zerwühlten Gesichtern enden.
Das sehen die Augen. Und die Bildkraft hinter der Zuschauerstirn sieht vielleicht Bundeswehrsoldaten mit Totenschädeln in der Hand oder Abu Ghraib: Über nackten, im Kauern gehaltenen Inhaftierten lächelt ein US-amerikanisches Frauengesicht. Da haben wir den Spaß, der Schnappschüsse so auszeichnet. (Später wird sich auch der Bühnenchor der Sieben keck aufstellen, und Kameraklicks sind zu hören.) Man ist dabei gewesen, und man wusste wohl, es würde sich später der Kreis finden, in dem man solche Fotos ungeniert herumzeigen könnte. Das »heimliche Auge« als Beweis für eine Privatheit, die ungewollt etwas sehr Öffentliches, Gesellschaftliches erzählt: Niemals hat politische Brutalität ihren Eigenausdruck zu kaschieren versucht.
Heimkehrer. Kann eine Bezeichnung zynischer sein? Aus Kriegen kommt man nicht heim, aus Kriegen wird man geworfen. Auch wer nicht gefallen ist, fällt. Ins Nichts. Was man noch hat an Leben, passt in eine Hand: der Strick, der aus dem schwarzen Bühnenhimmel fiel. Die helle Reißleine. Wie ewigkeitsverträumt doch einer blicken, stieren kann, der nicht mal mehr die nächste Minute haben will. Schon Hamlet wollte schlafen, nur schlafen, Beckmann will »pennen«. Sebastian Nakajew (der bei Lösch bereits grandioser Franz Biberkopf in »Berlin - Alexanderplatz« war) gibt ihn als unablässig Gehetzten. Ihm gelingt eine Gestalt, die nur eine einzige große, zitternmachende Furcht hat: In dieser Welt, in der alles abgeschafft wird, könnte auch die Erlösung abgeschafft sein, der Tod also.
Laut, deutlich, nackt. Lösch eben. Der Heftigkeitskurs. Gefühlsdimmtheater. Alle Emotion wird hochgedreht runtergefahren, bis man im Rumor der szenischen Übertreibungs-Grobkunst nicht mehr umhinkommt (quasi mit Genehmigung der Inszenierung), »auszusteigen« und etwa Sinn und Unsinn heutigen Militärs in einer demokratischen Ordnung zu bedenken. Während Beckmann in die Elbe will. Während er dem Anderen begegnet, »den jeder kennt«, unser zweites Ich - zu dessen Frau sich Beckmann legt und so selber zum »Mörder« an einem wird, der nur das Pech hatte, ein wenig später zurückzukehren aus dem Grauen. Oder der sich zum Oberst hinwagt, um ihm jene Verantwortung auf den Schlachtfeldern zurückzugeben, die ihn nur noch schreien lässt. Während der Oberst einen durchsichtigen Fettwanst trägt, in dem sich fahle Grillhähnchen stapeln.
Die Demokratie also. Sie bedeutet ja Entmilitarisierung - von Hierarchien. Das große Paradoxon: Freiheit und Würde, diese höchsten Werte einer aufgeklärten Gesellschaft, werden noch immer geschützt von Institutionen, deren Struktur auf Entpersönlichung, auf soldatischer, also unnatürlicher Unterwerfung beruht. Wenn immer mehr Menschen auf der Welt den Wehrdienst verweigern, dann ist doch klar, wer am Ende dort übrig bleibt, wo mit Androhung oder Anwendung von Waffengewalt unmittelbar Macht ausgeübt wird. Militärische Standorte sind wahrlich nicht Dependancen der geistigen Elite eines Landes.
So denkt man kühl in die neunzig Minuten hinein. Plötzlich ein Mann auf dem schwarzrotgoldnen Schluckteppich. Er stellt sich vor: Andreas Timmermann-Levanas. Familie verloren; unfähig, in einer Fleischerei das Rohe, Blutige zu sehen; in jedem Kleinkindschrei lauert der Schrei des sterbenden Kameraden. Ein Veteran der Bundeswehreinsätze auf dem Balkan, in Afghanistan. Beckmanns Erbe, der auch ein paar Worte Beckmanns sagt.
Der klare Verstand eines Zerstörten spricht. Spricht uns an. Erreicht nicht alle. »Wie wär's mit Wehrdienstverweigerung gewesen«, kräht weit hinten ein Zuschauer. Er hat so sehr recht, und doch klingt die Wahrheit, da ein Mensch in der verständnisflehenden Erzählung ist, entsetzlich arrogant und blutaderkalt.
Lösch treibt seine Inszenierung in eine reibende Spannung: Beckmann war schon immer die allseits anerkannte Leidensgestalt. Die hier zitierten Wehrmachtsprotokolle verüben einen Anschlag auf diese Übereinkunft. Und plötzlich schaut auch noch die Gegenwart des Tötens herein, vom Bundestag legitimiert.
In der Veteranenrede schlägt ein Herz, aber sie zielt (ob der Bundeswehrsoldat das selbst will oder nicht) auf einen entschiedenen Geist: Es gibt keine Trainierbarkeit von Vernunft und Gefasstheit dort, wo der Mensch Grenzerfahrungen macht, denen sein Beherrschungsvermögen nicht unbedingt gewachsen sein muss. So wie man keine Kriegserfahrung trainieren kann, ohne im Krieg zu sein, so wenig kann der Mensch letztlich mit verlässlicher Garantie dem vorbauen, was ihn dann zum Barbaren macht, wenn er der Barbarei ausgesetzt wird.
Dieser kurze, derbe Theaterabend, der am Ende still macht - er führt hart, anstößig den Zustand der Welt vor: Weil Soldaten gebraucht werden, ist diese Welt im Rohzustand. Wo sich Menschen als Soldaten gebrauchen lassen, holen sie sich diesen Rohzustand in Körper und Seele.
Nächste Vorstellung: 9. 2.
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