Eugen Ruge: Links, aber ohne alte Parolen

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nd: Eugen Ruge, im Vorwort zum nachgelassenen Buch Ihres Vaters Wolfgang Ruge, »Lenin. Vorgänger Stalins«, fragen Sie nach dem Nutzen der historischen Wahrheit: »Wozu zerstören wir die Ikonen, die wir anbeteten, wozu verneigen wir uns vor den Toten, deren Andenken wir durch unsere Ignoranz und unser Vergessen beschmutzt haben! Wir tun dies um unserer selbst willen.« Was heißt das?
Ruge: Ich habe wenig Hoffnung, dass wir aus der Geschichte lernen. Das ist auch wirklich schwer, weil sich die Bedingungen, unter denen Geschichte geschieht und gemacht wird, fortwährend ändern. Aber die Geschichte ist unsere Identität. Wir sind nichts anderes als unsere Geschichte. Ich glaube einfach, dass es gesund ist, sich zu dem, was man ist, zu bekennen.

Aber warum fällt es so schwer, in die Asche der eigenen Geschichte zu blicken? Auch dies hat Ihr Vater erlebt: Schon 1990 fragt er im ND: »Wer gab Stalin die Knute in die Hand?« - und löst bei eigenen Genossen blankes Entsetzen aus: Er hat Lenin angegriffen!
Für die Linke ist es belastend, in die eigene Geschichte zu blicken, weil diese Geschichte grausam und blutig ist. Das ist sehr schwer zu ertragen und zu integrieren. Jeder, der an den emanzipatorischen Zielen der Linken festzuhalten sucht, gerät in Gefahr, diesen Teil der historischen Wahrheit zu verdrängen und abzuspalten. Denn die Idee soll gerettet werden, und zugunsten der Idee werden Verbrechen verniedlicht. Die Fähigkeit der Menschen zur Vergesslichkeit und zur Verdrängung ist ungeheuerlich. Hinzu kommt, dass die Aufklärung der Verbrechen des Stalinismus in starkem Maße die Länder der ehemaligen Sowjetunion betrifft. Russland kämpft aber gerade den Abstiegskampf einer Großmacht, und die Vergangenheit wird idealisiert. Anders als in Deutschland gab es nach dem - gewonnenen - Krieg in der Sowjetunion eine ideologische Kontinuität, die eine Auseinandersetzung nicht zwingend machte. Und schließlich bleibt das Ausmaß der Verbrechen, die man den eigenen Menschen - den Bauern, den nationalen Minderheiten, den eigenen Genossen - angetan hat, schier unfassbar. Daran möchte man nicht denken, das möchte man nicht glauben, daran möchte man nicht erinnert werden.

Ihr Vater tat Einiges, damit Sie von Ideologie verschont blieben.
Ja, mein Vater hat, obwohl er Kommunist blieb, zeitlebens eine gewisse Vorsicht bewahrt. Er hat auf den »wahren Sozialismus« gehofft, wenngleich immer weniger, hat aber gleichzeitig ein Wiederaufleben stalinistischer Methoden befürchtet. Er wollte nicht, dass ich etwas studiere, was mich zu sehr in Systemnähe brächte. Er war froh, dass es die Mathematik wurde. Und obwohl zu keiner Zeit die Gefahr bestand, dass ich in die SED eintrete, weiß ich, dass er mich eher davon abgehalten hätte. Meine Mutter wurde einmal von irgendeiner Leitung bequatscht, in die Partei einzutreten. Sie nahm das irgendwie witzig, aber er ist richtig wütend geworden.

Ihr Vater verstand, dass Sie 1988 in den Westen gingen?
Ich habe es ihm sogar vorher angedeutet. Er hat es akzeptiert, viel leichter als meine - und hier muss ich einfügen: russische - Mutter, die vor allem den Sohn sah, der seine Mutter verlässt. Aber mein Vater hat es akzeptiert, weil auch er den Stillstand und die Indoktrination im Land seit Langem wahrnahm und darunter litt.

Leben in »Zeiten abnehmenden Lichts«.
Ja, und ich kann nicht einmal sagen, dass ich mich durch oppositionelle Taten hervorgetan hatte. Als jemand, der mit dem Wissen um die Verbrechen des Stalinismus und vor allem mit ihrer Leugnung aufwuchs, hatte ich kaum Illusionen. Insbesondere nach den Ereignissen in Ungarn und Prag war klar, dass Änderungen nur über Moskau kommen konnten. Und so ist es ja dann auch gewesen: Die Wende war im Kern eine Palastrevolution, angeführt von einem Mann aus dem Staatssicherheitsapparat: Gorbatschow. Natürlich sind die Massen dann in die Freiräume geströmt, aber kaum waren diese Freiräume da, zeigte sich, dass sie dazu genutzt werden würden, den Sozialismus abzuwählen. Ich habe, das muss ich sagen, früh gespürt, dass die osteuropäischen Länder auf den Kapitalismus zulaufen würden. Deshalb habe ich Ende 1988 beschlossen, den Weg abzukürzen. Dass es danach so schnell gehen würde, habe ich allerdings nicht geahnt.

Glauben Sie an eine nochmalige, alles umwerfende Revolution?
Nein. Die Idee, dass man die Welt durch eine sozialistische Revolution befreien könnte, wird wohl nach dem, was im 20. Jahrhundert geschah, nie wieder eine Chance erhalten. Der reale Sozialismus war von den Tagen des Oktober an eine Diktatur. Zuerst wurde das frischgewählte Parlament geschlossen, dann wurden die Sowjets und die Gewerkschaften entmachtet, sämtliche - auch linke - Parteien liquidiert, schließlich auch der innerparteiliche Meinungsstreit als »Opposition« gebrandmarkt. Die Idee von der Teilhabe aller an allen politischen und ökonomischen Belangen wurde so in ihr direktes Gegenteil verkehrt. Der Ruf nach Systemwechsel ist daher obsolet geworden. Es bleibt nur der Versuch, die Welt durch Reformen zu ändern. Aber wer sollte dazu in der Lage sein?

Ist die Katastrophe des Menschen wahrer Lehrmeister?
Ich glaube schon. Das Problem ist doch, dass sich die Katastrophen, die uns zum Verhängnis werden könnten, nur schleichend nähern: Klimawandel, Temperaturänderung. Die Menschheit lernt aber nur aus wirklichen, einschneidenden Katastrophen. Fukushima hat in Deutschland zur sogenannten Klimawende geführt - mal sehen, wie gründlich.

Welche Katastrophen waren denn Ihre Lehrmeister?
In meinem Leben waren es oft Trennungserfahrungen, die ich als katastrophal erlebt habe. Jeder Abschied ist ja ein Vorschein des großen Abschieds, der jedem von uns bevorsteht. In der Trennung erleben wir ein Stück Tod; wir lernen, uns zu verabschieden. In diesem Sinn war auch die Krebsdiagnose, mit der ich mich eines Tages auseinandersetzen musste, nichts anderes. Zum Glück hat sich die Diagnose in Luft aufgelöst. Niemand weiß, ob es sich um eine Spontanheilung oder um eine Fehldiagnose handelt. Die Wochen, die ich im Bewusstsein der Krankheit verbrachte, waren jedenfalls der letzte Anstoß, meinen Roman zu schreiben. So bringen Krisen einen mitunter vorwärts. Der Schmerz ist ein großer Lehrmeister, und manchmal glaube ich, dass der Mensch einzig durch Leidenserfahrungen reift.

Herr Ruge, Sie reisten im vergangenen Jahr durch Kuba, schrieben für »Die Zeit« einen behutsam beobachtenden Aufsatz. Am Schluss Ihres Textes aber Unmut über die überbordenden Heiligenbilder von Castro und Che Guevara. Sie stellen »politische Repression, widerliche Inszenierungen der Macht und die typische, im Kommunismus niemals überwundene Orientierung am Westen« fest. Und Sie fragen nach dem wahren Glück einer sozialistischen Gesellschaft. Worin bestünde es?
Der junge Marx beginnt ja beim Begriff der Entfremdung: dass der Mensch sich selbst durch die kapitalistische Produktionsweise entfremdet sei. Man kann darüber denken, was man will, aber natürlich handelt die sozialistische Utopie auch von neuen Menschen. Davon ist in Kuba wenig zu sehen. Auch hier geht es um den Dollar - oder »konvertierbare Pesos«. Die Menschen sind oft bitterarm, in den Neunzigern wurde gehungert. Heute fahren die westlichen Touristen in schicken Autos herum, die kubanischen Mädchen verkaufen sich um westlicher Konsumgüter willen. Ich habe in der DDR gelebt, und ich weiß, dass die Menschen den Westen als Ort der Verheißung und des Wohlstands erlebten. In Kuba ist das nicht anders, auch wenn es Fröhlichkeit und Sorglosigkeit gibt. Aber es existieren auch Repressionen und Ängste.

Ich kann Ihnen die Stichworte derer sagen, die Ihnen jetzt widersprechen: immerzu sehr viel Feind ringsum. Und angesichts dessen doch immerhin - gerade in Kuba - sehr große Errungenschaften: das Gesundheitssystem, die Bildung.
Das ist wahr. Aber die Attraktivität eines neuen Lebens sieht dennoch anders aus als diese trotzige Dauerbehauptung eines Minimalprogramms, das auch nicht so gut funktioniert, wie es scheint. Ohne Dollars möchte ich in kein kubanisches Krankenhaus. Und die vielgepriesene Schulbildung vermag nicht, Kuba genügend Knowhow zu verschaffen.

Wird der Kapitalismus siegen?
Der Kapitalismus ist unersättlich. Wachstumsideologie, Beschleunigung, Konkurrenz zerstören unsere Existenzgrundlagen und höhlen das Leben aus. Die menschlichen Beziehungen werden unerträglich ökonomisiert, dem obszönen Reichtum Weniger steht die Armut Vieler gegenüber. Und doch gibt es eine Entwicklung. Wenn wir über die unfassbaren Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts reden, müssen wir anerkennen, dass die Situation, in der wir heute hier in Europa leben, einen Fortschritt darstellt. Ich bin mir bewusst, dass das in anderen Teilen der Erde anders ist. Dennoch halte ich es für möglich, wenn auch nicht für wahrscheinlich, dass der Kapitalismus wandelbar ist. Das Parteiensystem ist sehr festgefahren. Man müsste darüber nachdenken, inwieweit Demokratie nur über Parteien realisierbar ist. Die Macht des Kapitals ist enorm, Banken und multinationale Konzerne beeinflussen die Politik. Aber auf der anderen Seite steht eine breite, immer selbstbewusster werdende Mehrheit. Macht ist kein Fixum, sondern ein Kräftegleichgewicht. Wir werden sehen, wie sich dieses Gleichgewicht ändert.

Sind Sie trotzdem ein Linker?
Wieso trotzdem? Ich bin Linker in dem Sinne, dass ich auf der Seite derer stehe, die nicht die Macht, nicht das Kapital besitzen. Ich bin auf Seiten derer, auf deren Kosten wir hier in Europa leben und konsumieren, auch wenn ich oft das Gefühl habe, dass ich mehr tun müsste, damit sich etwas ändert. Nur ist es eben sehr schwer, realistische Perspektiven zu entwickeln, und besonders nachdem sich die Idee des Sozialismus dermaßen diskreditiert hat. Übrigens soll keiner glauben, er sei ein Linker, nur weil er die alten Parolen weiter im Munde führt.

Interview: Hans-Dieter Schütt


»In Zeiten des abnehmenden Lichts« heißt das Theaterstück von Eugen Ruge, das am 28. Februar am Deutschen Theater Berlin (Regie: Stephan Kimmig) seine Uraufführung erlebt. Ruge hat damit seinen gleichnamigen Erfolgsroman für die Bühne bearbeitet - der 2011 den Deutschen Buchpreis errang. Ostdeutsche Geschichte, Jahrhundertgeschichte als Familien- und Generationenpanorama aus Aufstieg und Untergang, Exil und Heimatfindung, Feuer und Asche des Utopischen.

Eugen Ruge wurde 1954 im russischen Soswa geboren. Er ist der Sohn des DDR-Historikers Wolfgang Ruge (1917-2006), der von den Sowjets 1941 in den GULag deportiert worden war. Als Zweijähriger kam Eugen Ruge mit seinen Eltern nach Ost-Berlin. Mathematikstudium. Ab 1986 freier Schriftsteller, Dokumentarfilmer, Drehbuch- und Hörspielautor. Ein Jahr vor dem Mauerfall ging er in den Westen. Theaterstücke u.a.: »Vom Umtausch ausgeschlossen« (1990, Schauspiel Bonn; Regie: Anselm Weber), »Restwärme« (1992, Schauspiel Leipzig; Regie: Eugen Ruge), »Akte Böhme« (2001 Schauspiel Leipzig; Regie: Andreas Dresen).

Licht. Robert Walser schrieb: »Man sah den Wegen am Abendlicht an, dass es Heimwege waren.« B. K. Tragelehn sprach davon, die DDR sei »am Ende ein Sumpf gewesen, unrettbar. Aber im Abendlicht war sie dann auch wieder einen Augenblick schön.« Eugen Ruge ist der Dichter des abnehmenden Lichts. Nicht der plötzlichen Finsternis, nicht des gespenstischen Dunkels - Dichter jener Mählichkeit, mit der Dämmerungen ins Haus treten. Undeutlich wie »neue Sterne« (Brecht). So hat das Leben Zeit, sich in allen Schattierungen zu zeigen, in allem, was einander widerspricht und so erst ein Ganzes bildet.
hds

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