Kindheit in Reih und Glied

»Das Drachenmädchen« von Inigo Westmeier

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Besuch der Eltern hängt von der Note ab. Der Kauf eines Handy hängt von der Note ab. Das ganze Leben hängt von der Note ab. »Wenn du im nächsten Halbjahr Klassenbeste wirst, kommen wir dich besuchen« - für ein Kind von neun Jahren eine ziemliche Zumutung, wenn es kurz darauf zurückfahren soll ins Internat.

Die Tagou-Schule wurde 1978 mit einer Handvoll Schülern gegründet. Heute leben 35.000 Kinder und Trainer in direkter Nachbarschaft zum Shaolin-Tempel in der chinesischen Provinz Henan, dem Tempel, an dem die Kampfkunst des Kung Fu ihren Anfang nahm, anderthalbtausend Jahre, bevor sie durch das Kino weltweite Verbreitung fand. Dass die Einrichtung nicht staatlich finanziert ist, macht keinen sichtbaren Unterschied: Der Schau-Appell Tausender von Schülern auf dem Exerzierplatz - so möchte man es nennen, denn es läuft alles militärisch präzise ab - erinnert stark an die bis ins Detail choreografierten Parade-Aufmärsche in der Hauptstadt. »Elementare kulturelle Bildung« werde aber auch vermittelt, versichert der Schulleiter in seinem hochglanzpolierten Büro vor exakt aufgereihten Aktenordnern und Präsentationsfotos mit diversen Würdenträgern.

Als man sie ins Internat schickte, hatte Xin Chenxi geglaubt, dort werde sie jeden Tag spielen dürfen - und zwischendurch ein bisschen fliegen lernen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Früher, als sie klein war, hätten die Eltern sie jedes Halbjahr besucht, heute, wo sie groß sei, täten sie das nicht mehr, erzählt Xin Chenxi von der Höhe ihrer einsamen neun Jahre. Und zeigt in der nächsten Szene allein auf der Bühne vor einer Halle akkurat in Reih und Glied auf dem Boden sitzender Schüler, was sie in den zwei Jahren seit ihrer Ankunft gelernt hat. Vor der Kamera träumt sie vom Glücksdrachen, dem Emblem der Schule, der in der Nacht kommt und die Prinzessin mitnimmt auf einen Ausflug über die Wolken. Als sie nach ihrer Kindheit gefragt wird, kommt die Antwort in Raten. »Kindheit«, sagt sie, »Kindheit bedeutet... an den Feiertagen ist man glücklicher«.

Sie sind hier, diese Kinder, die der Dokumentarfilmer Inigo Westmeier bei ihrem strengen Training begleitete, um der Armut zu entkommen. Dass sie ihre Eltern selten sehen, hat nicht nur mit dem Leistungsdruck in Chinas Bildungssystem zu tun, sondern auch mit der Armut auf dem Land. Chen Xi, fünfzehn und ein später Schulzugang, war längst de facto-Waise, als sie in die Schule kam. Wie viele chinesische Kinder wuchs sie in der Obhut der Großeltern auf, als die Eltern zum Arbeiten in die Stadt zogen. Die Schule nennt Chen Xi ihren Vogelkäfig und erzählt von ihrer Neugier auf den großen weiten Rest der Welt. Aber im Alltag ist nicht viel Platz für private Träume: Wer hier bestehen will, ist jede Minute seines Tages ein Puzzlestück in einer vielköpfigen Trainings-Choreografie. Natürlich am besten ganz vorne.

Im Kloster nebenan geht es ruhiger zu. Die Zeiten eines individuellen Lehrer-Schüler-Verhältnisses bei der Kung Fu-Ausbildung seien vorbei, bedauert der Vorsteher. Der Schulleiter dagegen findet es normal, dass der große Bedarf an »Gesundheit und innerer Freiheit« zwangsläufig zu einer Industrialisierung des Kampf-Trainings geführt habe. Das harte Training werde sich aber in vielen Berufen für die Schüler auszahlen, weil sie einen starken Körper und Geist mitbrächten. Hinter jeder Mauer, in jedem Innenhof findet Inigo Westmeier mit seiner Kamera Schülergruppen in wechselnden Kampfesposen. Freizeit ist kein Wert an sich in diesem von Disziplin geprägten Universum. Und Kindheit schon gar nicht.

Die peinlich genaue Ordnung des Direktorenzimmers zieht sich durch alle Bereiche, Gedanken inklusive. Schüler werden »beherrscht«, man erteilt ihnen Befehle, im Fall von Regelübertritten setzt es Stockschläge. Der Kampf auf der Bühne mag gestellt sein, aber echte Narben vom Training können hier alle vorweisen. Und Frostbeulen. Im Speisesaal laufen Kung Fu-Filme, der Unterricht scheint vor allem aus dem Auswendiglernen von Parolen zu bestehen, frei ist nicht einmal der Sonntag. Wer weint, hat schon verloren, denn: »Tränen sind ein Zeichen der Unfähigkeit«. Es kann einem grausen vor dem, was solcherart trainierte Menschen in Führungspositionen anrichten könnten.

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