Sie konnte gut überzeugen

Die Erinnerungen der Anja Röhl an Ulrike Meinhof

»Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigenen Weise unglücklich«, zitiert der Verleger aus Tolstois »Anna Karenina«. Um sodann darüber zu informieren, dass das Buch eigentlich den Titel »Die Mutter meiner Schwestern« tragen sollte. Doch Regine und Bettina Röhl hatten juristische Schritte angedroht. Und verlangten, dass einige Passagen gestrichen werden. Lutz Schulenburg war so frei, diese nur - aus Protest - zu schwärzen.

Man weiß, dass Klaus Rainer Röhl, der 1961 Ulrike Meinhof geheiratet hatte, die gemeinsamen Töchter der Mutter entfremdete, nachdem diese in den Untergrund ging. Gleiches gelang ihm wohl langfristig auch bei Anja Röhl, Tochter aus seiner ersten Ehe. Dabei hat sie sich in geradezu rührender Weise ihrer kleinen, sieben Jahre jüngeren Halbgeschwister, den Zwillingen Regine und Bettina, angenommen.

Anja Röhl nimmt kein Blatt vor den Mund. Der Herausgeber der Zeitschrift »konkret«, war nicht nur ein arg unsympathischer Zeitgenosse, sondern auch liebloser, ja aggressiver Vater. Er schlägt Anja, »batschen« nennt er das und erklärt: »Haut heißt Haut, weil man drauf haut.« Röhl ist cholerisch, brüllt, wütet, tobt, schimpft Anjas Mutter eine »Schlampe« und hat keinerlei Scham, seine Affären offen auszuleben. Wenn er die Tochter mit in die Redaktion nimmt, kehrt er den Chef heraus, alle müssen nach seiner Pfeife tanzen. Anjas Kindheit ist trostlos und traurig. Bis Ulrike Meinhof in ihr Leben tritt, die es knapp sechs Jahre an der Seite des Machos und Egomanen aushält. Anja Röhl bleibt Ulrike bis zu ihrem rätselhaften Tod in Stuttgart-Stammheim verbunden. Und darüber hinaus.

Man leidet und bangt mit dem Mädchen und der jungen Frau, die hier ihr Leben offenlegt. Man freut sich über die wenigen freundlichen Tage in ihrer Kindheit und Jugend. Anja Röhl soll später kein Glück in der Liebe haben. Dies mag an frühen Traumata liegen. Sie kannte kein harmonisches Familienleben, war viel zu oft als Kind allein, wurde zwei Mal in ein Heim abgeschoben und ist vom eigenen Vater unsittlich betatscht worden. Es verwundert nicht, das Anja Röhl zu ihren Halbschwestern eine besonders innige Bindung entwickelt. Sie ist häufig in Lurup und später Blankenese, wo Röhl mit Ulrike Meinhof lebt, spielt mit den Zwillingen, versorgt sie und beobachtet voller Freude, wie sie Fortschritte machen, und ist stolz, wenn Ulrike Meinhof zu ihr sagt: »Du gehörst dazu, denn du bist die Schwester meiner Kinder.«

Interessant ist zu lesen, welche Fortschritte das Mädchen Anja Röhl an der Seite von Ulrike Meinhof macht. Sie liest begierig deren Artikel, kann sich mit ihrem Kampf für Gerechtigkeit identifizieren. Es ist eine dramatische Zeit: Notstandsgesetze, Vietnamkrieg, Bürgerrechtsbewegung in den USA, der Mord an Benno Ohnesorg und das Attentat auf Rudi Dutschke ... »Ulrike kann gut überzeugen«, erfährt man im Buch der Anja Röhl, die in dritter Person aus ihrem Leben erzählt: »Sie regt das Mädchen zum Nachdenken an. Ihr Kopf wird klarer, wann immer sie mit Ulrike redet.« Anja Röhl liest Sartre, Scholochow, Tolstoi, Dostojewski, Marx, Engels und Brecht, hängt in ihr Zimmer ein Plakat von Che Guevara und nimmt an Demos teil. »Die schlechten Eigenschaften ihres Vater erscheinen ihr nun als eine Folge des Egoismus im Kapitalismus, des Konkurrenzkampfes aller gegen alle.«

Es trifft sie hart, als Ulrike Meinhof im Untergrund verschwindet. Und sie ist entsetzt, als ihr Vater die Zwillinge in seine Gewalt bringt, gegen den Wunsch Ulrikes, die ihre Kinder bei guten Freunden aufwachsen lassen wollte. Dann kommt der Tag, an dem die Medien über die Verhaftung von Ulrike Meinhof berichten. Anja Röhl besucht die Freundin mehrfach im Gefängnis, schreibt Briefe, schließt sich dem Protest gegen Isolationshaft an.

Am 9. Mai 1976 hat gerade ihre Frühschicht im Krankenhaus begonnen, als sie die unglaubliche Nachricht hört: Ulrike Meinhof soll sich in ihrer Zelle erhängt haben. »Die junge Frau sinkt zu Boden. Aus ihrem Mund dringt ein Schrei. Nein!«

Anja Röhl: Die Frau meines Vaters. Erinnerungen an Ulrike. Edition Nautilus. 160 S., geb., 18 €.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -