Ohne die Anderen kein Selbst

Psychologie und Sozialisierung

  • Houssam Hamade
  • Lesedauer: 2 Min.

Man könnte die Psychologie als Feind linker und sozialistischer Erklärungen ansehen. Psychologische Ansätze neigen zur Subjektzentriertheit. Das heißt, dass auch die Probleme des Einzelnen vom Einzelnen gelöst werden sollen, während die linke Perspektive meint, man müsse gemeinsam lösen, was gemeinsam verursacht wurde. Dass Psychologie aber nicht unbedingt so einseitig sein muss, zeigt ein Buch über »Die Bedeutung der Scham« in der Psychologie, von Jens L. Tiedemann. Insgesamt sei die Scham bisher von der psychologischen Forschung vernachlässigt worden, was sich aber in den letzten Jahren änderte.

Tiedemann weist nach, dass Scham bei einer ganzen Reihe von Krankheitsbildern eine entscheidende Rolle spielt. Subjektiv fühle sich Scham an wie ein Bloßstellen, das uns defizitär und minderwertig erscheinen lässt. Um sich als minderwertig bewertet zu fühlen, braucht es aber ein wirkliches oder verinnerlichtes Gegenüber. Das ungeheuer starke Gefühl der Abwertung kann zu heftigen Selbstzweifeln, dem Wunsch nach Unsichtbarkeit und sogar zum Wunsch der »Zerstörung aller anderen« führen. Scham sei auch ein »Damm gegen das instinkthafte Leben«. Der Kampf des Über-Ich gegen das Es. Und da Scham »ansteckend« sei, müssten sich auch Psychotherapeuten klar machen, wie wesentlich der Alltag der Therapie beeinflusst ist durch Scham und Fremdscham.

Was sich dabei herausschält ist eine Änderung der Perspektive: Kein Gefühl sei dem Selbst und dem eigenen Ich so nahe wie die Scham. Und da die Scham nicht im Individuum entsteht, sondern im sozialen Kontext, heißt das, dass sich das Selbst ohne den Anderen nicht adäquat verstehen lässt. Der »Schlüssel-Affekt« der Scham basiert auf Bewertungen durch andere. Wenn man das weiterdenkt, muss man feststellen, dass gesellschaftliche Strukturen und Umstände eine entscheidende Rolle für das Selbst spielen. Gleichzeitig zeigt das Beispiel der Scham auch, dass sich das Verhalten des Individuums nicht ausschließlich über die soziale Struktur erklären lässt, denn wofür der eine sich schämt, das lässt den anderen zuweilen kalt.

Jens L. Tiedemann: Scham. Psychosozial- Verlag.144 S., br., 16,90 €.

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