Nanu, Miss Sophie und Mr. Winterbottom in einem Album der Familie Marx? Beim ersten ehrfurchtsvollem Durchblättern dieser bibliophilen Kostbarkeit bleibe ich auf Seite 258 hängen. In welcher Beziehung stehen die alte Dame, die alle Jahre wieder auf allen TV-Kanälen zu ihrem 90. Geburtstag von Butler James ein »Dinner for One« serviert bekommt und ihr seliger Freund Mr. Winterbottom zu dem aus Trier exilierten Philosophen? In gar keiner. Wie die Herausgeber dieses kulturhistorischen Kleinods vermuten, war Sophie Winterbottom eine Freundin der jüngsten Marx-Tochter Eleanor, genannt Tussy. Die Vermutung stützt sich auf deren Antworten in Jennys »Confessions-Book« (Bekenntnisse-Album). Denn da gibt Miss Sophie auf die Frage nach ihrer Heldin kund: »Queen Eleanor«. Und ihr Held ist gleich Tussys: Garibaldi.
Ein internationales Marx-Engels-Forscher-Team präsentiert erstmals vollständig die Alben der beiden älteren Marx-Töchter Laura und Jenny. Sammelte die eine fleißig Fotos von Familienangehörigen, Verwandten, Bekannten, Freunden, so die andere »Bekenntnisse«. Das eine Album so wertvoll wie das andere, letzteres freilich spannender. Die Antworten auf die von Jenny gestellten (mitunter divergierenden Fragen) sind, wie Iring Fetscher in seinem, den Faksimiles vorangestellten Essay bemerkt, »stenografische Psychogramme«. Da ist viel zu erfahren über Wesen und Charaktere, Wünsche und Träume, Lebensziele und Visionen der Befragten. Mitunter wird geneckt.
Karl Marx und seine Frau Jenny antworten eher nachdenklich, Friedrich Engels hingegen »mit einem Körnchen Salz und mit ironischer Verspieltheit« (Fetscher). In reizvollem Kontrast zueinander und doch sich zusammenfügend die Motti der drei - Marx: »de omnibus dubitandum« (an allem ist zu zweifeln), Jenny: »nil desperandum« (nicht verzweifeln) und Engels: »take it easy« (nimms leicht).
Die altersmäßig sich nahe stehenden Töchter Laura und Jenny geben sich ähnelnde, überlegte Antworten, Nesthäkchen Eleanor schießt quer - und überrascht. Da erwidert doch die Zehnjährige auf die Frage, was sie beglückt: Champagner! Und bezeugt damit (womit keinesfalls Marxens Vaterschaft angezweifelt werden soll) eine Wesensverwandtschaft zum treusten Freund der Familie. Engels antwortet auf gleiche Frage mit »Chateau Margaux 1848« - ein besonders guter Jahrgang. Davon ist jedenfalls der Grandseigneur westdeutscher Marx-Forschung, Fetscher, überzeugt.
Schon im zarten Alter von zwei Jahren hat Eleonore Erstaunen erregt. Erzeuger Marx fragt sich, ob seine Frau sich im Geschlecht geirrt habe, »als sie dieselbe als Mädchen zur Welt gebracht« hat. Und er erinnert sich »eines merkwürdigen Witzboldes«. Als Lieblingsbeschäftigung gibt Tussy »Schule schwänzen« an, als Tugend favorisiert sie Wahrheit, im speziellen beim Mann Tapferkeit, zu Frau fällt ihr nichts ein. Apropos, nicht sehr fortschrittlich, eher konservativ äußert sich hierzu Karl Marx. Als bevorzugte Tugend beim Mann sieht er Stärke, der Frau verordnet er Schwäche. Und dass, obwohl (vielleicht auch eben weil) er von starken, selbstbewussten Frauen umgeben war. Zu jenen gehörte auch Helena Demuth, die Haushälterin. Kein Wunder, dass sie nicht nur Marxens Herz gewann, war sie doch, wie ihre Bekenntnisse bezeugen, eine humorige, äußerst lebenslustige und feinsinnige Frau. Glück ist für sie, ein »Dinner zu essen, das ich nicht selbst zubereitet habe«, ihre Lieblingsbeschäftigung: »Building castles in the air« (Luftschlösser bauen), und ihre Helden sind ihr großer Koch- und ihr Kaffeetopf.
Sympathisch auch das Credo der Vierbeiners »Whiskey«: Eat and be merry (Iss und sei vergnügt). Ja, auch der Lieblingshund der Familie Marx ist in Jennys »Confessions-Book« verewigt, sogar schon an fünfter Stelle. Was auf die herausgehobene Stellung der tierischen Freunde in der Familie verweist. Marx war völlig närrisch nach Hunden, überlieferte eine Freundin; es gab wohl mitunter gleich derer drei im Haus, und alle waren etwas Besonderes: »Jocko« scheint ein Streuner gewesen zu sein, »Blacky« benimmt sich wie ein Gentleman, »Dickey« hat sich als sehr guter Sänger entpuppt... Aber »Whiskey« blieb einzigartig, eine »große und gute Persönlichkeit«. Und so hat dieser auch einen extraordinären, einen antiken Helden, wie uns Jenny wissen lässt: der Hund des Odysseus, jener Argos, der über ein Jahrzehnt treu auf die Rückkehr seines Herrn aus mörderischem Kriege wartete. In Lauras Album findet sich auch ein Foto von »Whiskey« (welch verräterischer Name, verweist er doch auf die Genüsse, die sich der bettelarme Marx auf Old Freds Kosten leistete). Zu den viehischen Gesellen gehörte übrigens sogar mal ein Igel. Doch der hat sich eines Tages so unglücklich in die Bettdecke gekuschelt und verheddert, dass er sich selbst erdrosselte. Tussy vergatterte Engels, die Grabrede zu halten: »Friede seiner Asche and better luck to the next one.«
Trotz solcher betrüblichen Mitteilungen, diese Lektüre macht riesigen Spaß. Man fühlt sich einbezogen in die Konversation, in die Plauderei der Marxens mit den Liebknechts, Kugelmanns, mit Dietzgen, Wolff, Heine... Leser, die hier eine Anleitung für die nächste Weltrevolution erhoffen, werden freilich enttäuscht. Im Gegenteil, hier geht es so ganz und gar nicht klassenkämpferisch zu, sondern allzu menschlich, denn nichts Menschliches war ihnen fremd - der Familie Marx, ihren Freunden, ihren Mitstreitern.
Doch nicht nur Unterhaltung, auch Erkenntnisgewinn ist garantiert (sicher selbst für jene, die über Marx und die Seinen alles zu wissen vermeinen). Einige Texte und Fotos konnten neu respektive erstmals zugeordnet werden. Manch Kürzel oder Anspielung bleibt dubios; die Herausgeber ermuntern explizit des Lesers Forschungslust. Ein viel zitiertes Bonmots wird in seinen ursächlichen Kontext gebracht: »Was ich weiß ist, daß ich jedenfalls kein Marxist bin«, soll Marx kritisch zu Texten seines Schwiegersohns Paul Lafargue geäußert haben. Korrigiert wird, dass »Mohrs« Lieblingsblume nicht wie vielfach kolportiert der Lorbeer war (so eitel war er denn doch nicht), sondern Seidelbast, »ein strauchartiges, sehr schön im Vorfrühling violett-rosa blühendes Gewächs, welches häufig in der Umgebung von Trier vorkommt und Marx wohl eher an unbeschwerliche Tage der Jugend und seine frühe Liebe zu Jenny erinnert«. Enttäuscht hat mich, dass Marxens »favourite dish: fish« gewesen ist (Lieblingsessen: Fisch? Igitt!).
Im Anhang der zeitgleich in Tokio und Berlin erschienenen wunderbaren Edition wird die Überlieferungsgeschichte der Alben skizziert. Und da erfährt der Leser (so er dies noch nicht wusste), wie jener rettende Holländer hieß, der 1938 den Marx-Engels-Nachlass dem durch Hitler ins Exil gezwungenen und in finanzielle Nöte gestürzten SPD-Vorstand abkaufte: Nicolaas Wilhelmus Posthumus. Nomen est omen.
Izumi Omura/ Valerij Fomicev/ Rolf Hecker/ Shun-ichi Kubo: Familie Marx privat. Die Foto- und Fragebogen-Alben von Marx Töchtern Laura und Jenny. Akademie Verlag, Berlin. 457S., geb., 69,80 EUR.