Der Kapitalismus als Wille und Vorstellung

Ayn Rand propagiert den Egoismus

  • Jörn Schulz
  • Lesedauer: 9 Min.

»Ich habe es satt, Männer zu treffen, die ich nicht bewundern kann«, klagt Jennifer. Die 22-Jährige aus Columbus, Ohio, will sich jedoch nicht unterwerfen, sie sucht »jemanden, der zu meinem unbeugsamem Geist passt«, nämlich »meinen John Galt«. Deshalb wandte sie sich an Atlasphere, eine Website, die Fans der Schriftstellerin und Philosophin Ayn Rand miteinander in Verbindung bringt, zu Diskussionen oder auch zum Dating.

John Galt ist der Held des 1957 erschienenen Romans »Atlas Shrugged«, der als Rands wichtigstes Werk gilt und ihre Philosophie des »Objektivismus« propagiert. In den USA wurden mehr als acht Millionen Exemplare verkauft, in deutscher Sprache wurde das Buch im vergangenen Jahr unter dem Titel »Der Streik« veröffentlicht. Neben Atlasphere gibt es noch zahlreiche weitere Webseiten und politische Gruppen, die sich auf Rand berufen, sowie ein Ayn Rand Institute, das sich ihrer Philosophie widmet.

Rand ist eine Heldin der Rechten, allerdings jener Rechten, die nicht dem Klischeebild des frömmelnden US-Konservativen entsprechen. Die Philosophie des »Objektivismus« ist atheistisch, nicht nur un-, sondern explizit antichristlich. Rand erklärt den Verstand zum Maß aller Dinge und zur entscheidenden Produktivkraft. Begabten »Verstandesmenschen« müsse daher der ungeschmälerte Ertrag ihrer Tätigkeit zugute kommen, den sie auf einem nicht reglementierten Markt erzielen. Ihr idealer »Verstandesmensch« ist ein Egoist, der von Nächstenliebe nichts hält und auch das Familienleben als Tauschverhältnis betrachtet.

Die schlichte Idee, die »Atlas Shrugged« zugrunde liegt, ist eine Umdeutung des Begriffs der Ausbeutung. Nicht die Lohnabhängigen werden übervorteilt, sondern die »Verstandesmenschen«, die als alleinige Träger des Fortschritts und der Zivilisation gelten. Geführt von John Galt, verschwören sie sich, um die Last abzuwerfen, worauf der Originaltitel anspielt, und treten in den Streik. Sollen sie doch, möchte man meinen, aber in Rands Welt bricht ohne sie alles zusammen.

Die propagandistische Absicht tritt in diesem Roman in allzu plumper Weise hervor, das Buch ist angefüllt mit unzähligen Predigten und für ein Werk, das die Effizienz preist, mit mehr als 1200 Seiten arg lang geraten. Zudem brachte Rand es nicht über sich, den als »Plünderer« bezeichneten Feinden ihrer »Verstandesmenschen« wenigstens ein paar kluge Dialogzeilen zu gönnen, sie werden durchgängig als unmoralische Trottel dargestellt.

Von Interesse ist »Der Streik« wegen des von Rand propagierten Menschen- und Gesellschaftsbilds, das eine bedeutende Fraktion des rechten Milieus vor allem in den USA stark beeinflusste. Sie stellt die rücksichtslose Verfolgung egoistischer Interessen als moralisch, sogar als heldenhaft dar. Diese Heroisierung und Rands Bezug auf die Mythen der Pionierzeit, vor allem den Eisenbahnbau, geben ihrem Individualismus einen archaischen Zug. Mit ihrer Zurückweisung nicht nur des Christentums, sondern aller Bindungen und Traditionen, konzipiert sie jedoch eine zwar sehr unterkühlte, aber auch sehr moderne »neue Welt«.

So spielt mit John Galt ein Mann die Rolle des strahlenden Helden (»Er wirkte wie aus Metall gegossen«), doch die Hauptfigur ist die Eisenbahnmanagerin Dagny Taggart. Zwar sollten Autoren nicht mit den von ihnen erfundenen Romanfiguren verwechselt werden, doch beschrieb Rand Dagny Taggart als »ich selbst, abzüglich aller möglichen Schwächen« und »meine Idealfrau«. Vom Feminismus hat sich Rand Ende der sechziger Jahre distanziert. Da ihr allein staatliche Vorschriften als Unterdrückung gelten, gibt es für sie kein Patriarchat. Verstand und Heroismus genügen in »Der Streik« als Mittel der Selbstbehauptung und als Weg zum Aufstieg für eine Frau.

Die unbeugsame Jennifer stellt also hohe Ansprüche. Auch der Sex à la Rand ist heroisch. Von bedingungsloser Liebe will sie nichts wissen, vielmehr lässt sie Dagnys Geliebten Hank Rearden sagen: »Ich liebe dich. Als den gleichen Wert wie meine Arbeit, auf dieselbe Weise, (...) wie ich meine Arbeit liebe, meine Stahlwerke, mein Metall, meine Stunden am Schreibtisch.« Weil Sex nur als Vereinigung von Leistungsträgern eine Bedeutung hat, muss Dagny nach dem ersten Liebeserlebnis eine Weile auf den nächsten ihrer würdigen Partner warten und wird schließlich John Galts Geliebte. Die beiden Verlassenen akzeptieren Dagnys Entscheidung klaglos - möge der Bessere gewinnen.

Nicht etwa: Möge der Reichere gewinnen. »Geld dient keinem Verstand, der ihm nicht gewachsen ist«, doziert Francisco d’Anconia, ein Verbündeter Galts. Reichtum, der nicht der Ertrag von Verstandestätigkeit ist, gilt als unverdient. Die größte Verachtung trifft nicht etwa Sozialisten und Kommunisten - sie kommen gar nicht vor. Als »Plünderer« werden alle bezeichnet, die der freien Entfaltung des Marktes im Weg stehen, als erbärmlichste Figuren erscheinen neben Politikern jene Unternehmer, die in Washington herumscharwenzeln, da sie ihren Profit auf Kosten anderer machen.

Rands Helden sind heroische Aristokraten, sie bilden einen Geldadel im positiven Sinn. Wenn diese »Verstandesmenschen« fehlen oder zu sehr gegängelt werden, brechen Produktion und Transport zusammen, was eine Kettenreaktion auslöst und schließlich zum vollständigen Ruin führt. Galts Verschwörung beschleunigt nur den Untergang, den die »Plünderer« ohnehin herbeigeführt hätten.

Mit anderen Worten: Von ökonomischen Mechanismen hatte Rand keine Ahnung. »Papiergeld ist ein Scheck, der von legalen Plünderern auf ein Konto ausgestellt wird, das ihnen nicht gehört: die Tugend der Opfer«, lehrt d’Anconia, der nur dem Gold vertraut. Der real existierende Kapitalismus basiert Rand zufolge auf der Enteignung der Leistungsträger (»Opfer«) und dem Ausstellen ungedeckter Schecks, während ihr ideeller Kapitalismus Wille und Vorstellung ist. Am deutlichsten wird dies in der kuriosen Idee eine Unternehmerkommune.

In »Galt’s Gulch«, dem Refugium der »Streikenden« in den Bergen Colorados, ist der Egoismus, auf den alle vereidigt werden, die ideologische Grundlage des Zusammenlebens. Ohne staatliche Gängelung entsteht hier eine kapitalistische Version der Assoziation freier Produzenten, in der alle glücklich arbeiten und keine Polizei benötigt wird. In seiner großen Abschlusspredigt fordert Galt allerdings nur, die staatliche Tätigkeit auf den Schutz vor Invasoren und Kriminellen zu reduzieren.

Obwohl Rand die Kompromissversion des »schlanken Staates« vorsieht, ist »Der Streik« ein anarchokapitalistischer Fantasy-Roman, der eine Heilslehre propagiert. Von konsequenten Anhängern der reinen Lehre hätte man wenig zu befürchten.

Doch statt zusammenzulegen und eine Insel zu kaufen, suchen sich Rands Fans nach dem Vorbild der Christen aus ihrer heiligen Schrift das Passende heraus. Was bleibt, ist dann meist der Hass auf tatsächliche und vermeintliche Empfänger von Transferleistungen und die damit verbundene Vorstellung, der Sozialstaat sei ein gefräßiges Ungeheuer. Aus dieser Sicht müssen selbst die dezenten Reformen Barack Obamas als »Sozialismus« erscheinen.

Unter Rechtslibertären in den USA kann diese Haltung mit der Kritik an staatlichen Kontrollmaßnahmen verbunden sein. Ron Paul, der sich drei Mal bei den Vorwahlen der Republikaner als Präsidentschaftskandidat bewarb und sagte, Rand habe »großen Einfluss« auf ihn gehabt, forderte etwa die Auflösung des Überwachungsministeriums Department of Homeland Security. Zugute halten kann man den Rechtslibertären auch, dass sie in ihrem marktwirtschaftlichen Extremismus wenigstens konsequent sind. Deshalb hatte Präsident George W. Bush im Jahr 2008 erhebliche Probleme, eine ausreichende Zahl seiner republikanischen Parteifreunde im Kongress davon zu überzeugen, dass man ein »Rettungspaket« schnüren und die Banken mit Milliarden überschütten müsse.

Die meisten republikanischen Anhänger Rands finden sich jedoch recht gut im real existierenden Kapitalismus mit seinen Subventionen für Banken und Konzerne zurecht. Ihr Problem sind eher christlich-konservative Lobbygruppen, die streng darauf achten, dass republikanische Politiker sich nicht auf die gottlose Philosophin berufen. So musste Paul Ryan, der republikanische Vizepräsidentschaftskandidat bei den Wahlen im vergangenen Jahr, sich umgehend von Rand distanzieren, nachdem bekannt geworden war, dass er ihr Werk als den Grund für seine Hinwendung zur Politik bezeichnet hatte.

Dass sich die Republikaner derzeit in einer Art Streik befinden und sich weigern, in den Verhandlungen über den Haushalt wirkliche Kompromisse einzugehen, dürfte zwar nicht auf die Rand-Lektüre zurückgehen. Doch werden in der Debatte viele ihrer Ideen propagiert, etwa die grundsätzliche Ablehnung staatlicher Umverteilungsmaßnahmen und die Vorstellung, die Kürzung der Sozialausgaben sei jenseits ökonomischer Zwänge ein Gebot der Gerechtigkeit.

Die am 1. März in Kraft getretenen Sparmaßnahmen werden zwar noch keinen Zusammenbruch herbeiführen, doch bringen sie neben sozialen Härten auch einen weiteren Verfall der Infrastruktur mit sich, und schwerwiegendere Maßnahmen könnten in den kommenden Monaten folgen. Wenn aber bei Jennifer in Columbus die Lichter ausgehen, kann man sicher sein, dass sie Obama die Schuld geben wird.

Ayn Rand: Der Streik, Übersetzung: Claudia Amor, Alice Jakubeit, Leila Kais. Verlag Kai M. John, München 2012 (zweite Auflage 2013), 1259 S., 39,90 €.


Von der »FAZ« wird sie als die »schärfste Kritikerin des Wohlfahrtsstaates« und »Freiheitsfanatikerin« bezeichnet. Ayn Rand (1905 bis 1982) kam als 21-Jährige aus der Sowjetunion in die USA, wo sie zunächst Drehbücher schrieb. Heute gilt sie dort als politisch enorm einflussreiche Schriftstellerin, um deren Werk ein regelrechter Kult betrieben wird. Jede Art des staatlichen Eingriffs ins Wirtschaftsgeschehen lehnte sie ab. Ihr berühmtestes Werk, der »philosophische« Roman »Atlas Shrugged« (auf Deutsch: »Der Streik«), der vor allem als Apologie auf den entfesselten Kapitalismus und den ungehemmten Egoismus des Individuums gelesen wird, ist mehr als fünf Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung noch immer ein internationaler Bestseller und gilt vielen US-Amerikanern als das zweitwichtigste Buch nach der Bibel.

Im September 2011 inszenierten Jürgen Kuttner und Tom Kühnel am Deutschen Theater Berlin ihr Stück »Capitalista, Baby!« nach Ayn Rands Roman »The Fountainhead«. Daniel Hoevels spielte darin den Architekten Howard Roark, der vor Gericht gestellt wird, weil er Sozialwohnungen in die Luft gejagt haben soll, die auf seinen eigenen Entwürfen basieren. Er, das Genie, kann Kompromisse an seinem Werk nicht dulden. Seine Verteidigungsrede hielt dieser Roark, verkörpert durch den unsagbar souveränen Hoevels, auf der schiefen Ebene eines Dollar-Symbols - »ein eiskaltes Plädoyer wider das Wir«, wie es in der nd-Rezension hieß. »Wir sind gezwungen, zu diesem stolzen Menschen hinaufzusehen, auch dann noch, als das Aufsehen längst schmerzt. Im polierten Gold unter Hoevels› festen Füßen spiegelt sich das mählich hochgedimmte Gleißlicht irgendwann so intensiv, dass man blinzeln muss, um sich nicht blenden zu lassen.‹«


Jörn Schulz arbeitet als Redakteur für die linke Wochenzeitung »Jungle World«. Er ist Historiker und befasst sich vor allem mit dem Nahen und Mittleren Osten. Die Beschäftigung mit dem Islamismus weckte sein Interesse an anderen Heilslehren. Er stellte fest, dass diese nicht immer explizit religiös sind und nicht zufällig das gleiche Leuchten in den Augen von Fernsehpredigern und Börsenanalysten zu erkennen ist. Die Frage, warum so viele Menschen soziale Maßnahmen, die ihnen nützen würden, vehement ablehnen, führte ihn auf die Spuren der Tea-Party-Bewegung. Nachdem er ungläubig deren Glaubenssystem untersucht hatte, brauchte er erstmal ein Bier.

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