Wie man sich betet, so lügt man

ZUR SEELE: Erkundungen mit Schmidbauer

  • Lesedauer: 3 Min.

In einer Geschwisterschar hat sich bis ins Rentenalter ein grundlegender Zusammenhalt bewahrt, obwohl die drei Schwestern und drei Brüder sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen haben. Sie alle wurden sehr fromm im Schoß einer Sekte erzogen. Aber nur bei den beiden ältesten Schwestern hat sich die Tradition erhalten. Die anderen sind aus der Sekte ausgetreten und wollen nichts mehr von ihr wissen.

Als einer der Brüder nach einem schweren Schlaganfall wochenlang zwischen Leben und Tod im künstlichen Koma auf der Intensivstation eines Krankenhauses lag, zeigten sich die Geschwister von ihrer besten Seite. Er war Witwer, seine einzige Tochter lebte in Japan und hatte mit dem Vater gebrochen, dessen cholerisches Temperament bei allen berüchtigt war, die ihn kannten. Aber trotz der sozialen Isolation, in der er die letzten Jahre verbracht hatte, blieb der Schwerkranke in seinem Koma kaum einen Tag unbesucht. Es wurde ein Mail-Dienst eingerichtet, die Geschwister erfuhren über Internet oder Telefon von seinem Zustand, einige nahmen weite Reisen auf sich, um ihn zu sehen, ihm vorzulesen, ihm ihr Interesse an seinem Zustand und seinem Weiterleben zu vermitteln.

Nur eine der Schwestern hielt sich zurück. Sie sei zu beschäftigt, sagte sie, den Bruder zu besuchen, was die anderen verwunderte, denn sie war - anders als einige von ihnen - schon in Rente und galt als die Frömmste, die niemals mit moralischen Ermahnungen geizte. Sie war oft vorwurfvoll, dass sich die jüngeren Geschwister dem Glauben entfremdet hätten, schickte ihnen Briefe mit mehr oder weniger passenden Bibelstellen und mühte sich um das Seelenheil der Geschwister.

Nach zwei bangen Wochen mit oft kritischem Zustand des Kranken kam der Augenblick, in dem die künstliche Beatmung versuchsweise abgeschaltet wurde. Jetzt musste es sich entscheiden, ob er ins Reich der Lebenden zurückkehren würde. Im anderen Fall gab seine inzwischen aufgefundene Patientenverfügung vor, ihn als hilflos von Geräten Abhängigen sterben zu lassen. Zur großen Erleichterung der Angehörigen atmete er spontan und war bald wieder ansprechbar, auf dem Weg zur Besserung, wenn auch noch in vielen Funktionen eingeschränkt und der Rehabilitation bedürftig.

Alle freuten sich, aber nicht alle konnten lachen, als die bigotte Schwester verbreitete, die Rettung des Bruders sei ein Wunder, vom Herrn geschenkt, weil sie so fleißig gebetet habe. Sie hatte sich weniger als alle anderen irdisch bemüht, beanspruchte jetzt aber dank ihrer Verbindung zum Höchsten den Löwenanteil an der glücklichen Entwicklung.

Wir hören nicht selten von den Verteidigern der Religion, dass ohne deren Einfluss die Ethik in der Bevölkerung zusammenbrechen würde. Der Beweis dafür fehlt. Die Kriminalstatistik ist an Orten mit vielen Frommen nicht besser als an solchen mit wenigen; sie hängt sichtlich mehr mit sozialer Ungleichheit und Entrechtung zusammen als mit dem Glauben an Gott. Wer sich mit Menschen in Alltagssituationen beschäftigt, kann wenig Übereinstimmungen zwischen dem Bekenntnis zum Glauben und moralisch tadellosem Verhalten finden. Wenn im Wirkungskreis der höchsten Ideale, im Verhältnis der Bischöfe zu den Priestern, der Priester zu den Ministranten, der Religionslehrer zu den Schülern die üblichen Missgriffe und Missbräuche so gut geschehen wie anderswo, läuft das auf dieselbe These hinaus.

Nun werden die Frommen mit Recht einwenden, dass der Missbrauch des Glaubens nicht mit diesem gleichgesetzt werden darf. Die eitle Schwester macht sich mindestens der Sünde des Hochmuts schuldig. Aber wer schützt die Gläubigen davor, sich ihre Praxis zurechtzulügen?

Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Das heißt vermutlich: Der Mensch schuf Gott nach dem seinigen, sagte Georg Christoph Lichtenberg, im 18. Jahrhundert der erste deutsche Professor für Experimentalphysik in Göttingen. Das heißt leider auch, dass nur der Mensch den Menschen zur Rede stellen wird angesichts des Missbrauchs derer, die von Gott sprechen und ihre eigene Bequemlichkeit meinen.

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