Emanzipation der Dissonanz

Zum 200. Geburtstag von Richard Wagner

  • Kerstin Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Bin ich das Gespenst oder ist es die Welt?

Das ist die Frage, die über seinem ganzen Leben stand. Immer, wenn sie ihm vor die Seele trat - und sie neigte zu häufigen Besuchen -, meinte Richard Wagner mit einer Selbstbezichtigung antworten zu müssen. Dann dachte er darüber nach, was eigentlich dagegen spräche, seinen Aufenthalt auf diesem ungastlichen Stern zu beenden. Andererseits: Nur wer ein ganzes Konkurrenzuniversum in sich trägt, stellt überhaupt Fragen dieser Form. Welt gegen Welt!

»Nie sollst du mich befra-gen …« Namen sind Schicksale? In seinen Opern würde das immer wieder so sein, und er ahnte schon bald, was der seine bedeutete: Ein Wagner, ein Wagender zu sein, hieß, hinauszustürzen ins Offene, hieß, nicht zu geizen mit sich, hieß, ohne Netz zu leben. Es gibt bekömmlichere Existenzweisen.

Richard Wagner und Karl Marx gehören derselben Generation an; sie antworten auf die gleichen Fragen, zwei Revolutionäre, tendenzielle Apokalyptiker mit dem längstmöglichen epischen Atem, zwei verquere Hegelianer nicht zuletzt. Das Thema beider: die große (urromantische) Versöhnungsvision von der Humanisierung der Natur und der Naturalisierung des Menschen.

»Das Kapital« und »Der Ring des Nibelungen« sind Parallelphänomene, zwei Opern von größter Welthaltigkeit. Nur dass sie verschieden enden. Wo der eine die Weltrevolution ausruft und das »Proletariat« als Erlöserin einsetzt, lässt der andere am Schluss ein kleines Motiv im großen Weltenbrand aufscheinen, das im ganzen »Ring« bisher nur einmal vorkam. Damals, als Brünnhilde Sieglinde sagte, dass sie ein Kind bekommen werde. Und nun ist es wieder da, ein Aufstieg von äußerster Zartheit und Schmerzlichkeit, so hingeweht und schon halbverloren, wie jede Hoffnung ist. Ob am Ende der »Götterdämmerung« oder am Anfang des »Tristan«: Muss man nicht taub sein, um an diesem »Herz- und Hirnmesser« (Freud) nicht hellhörig, welthörig zu werden?

Oder anders: Wer Ohren hat, das zu hören, zählt schon zu den Erlösungsbedürftigen. Das hebt keine Revolution auf, ahnte Richard Wagner und erfand das Genre der Erlösungsoper.

Kommen wir zum Anfang! Vergegenwärtigen wir uns den Lebensbogen des Richard Wagner, geboren am 22. Mai im Jahr der Völkerschlacht zu Leipzig, Sohn des Polizeiaktuarius Carl Friedrich Wagner und der Bäckerstochter Johanna Rosine Pätz, anhand der Entstehung und der Folgen seines ersten Dramas.

Denn vielleicht zeigt schon der fünfzehnjährige Leipziger Schüler das Charakterbild des späteren Komponisten. Auch die typischen Wagner-Formate zeichnen sich bereits ab. Der Nikolaischulabstinenzler verfasste sein erstes Drama, nach der Selbstauskunft des Autors in »schräg zurückgebogenen Buchstaben«, die seine Lehrer an die persische Keilschrift erinnerten. Manche Geschichten - und diese gehört dazu - sollte man sich im Grunde nur von Wagner selbst erzählen lassen, denn er besaß, was man gerade bei diesem Autor so wenig vermutet: die Fähigkeit zur wunderbarsten Selbstironie, einen überaus feinnervigen Sprachwitz, zumal in Briefen, der frühen Pariser Prosa und, wie in diesem Fall, in seiner Autobiographie »Mein Leben«.

Das Trauerspiel hieß »Leubald und Adelaide« und war nicht zuletzt Ergebnis des Umstands, dass sein Onkel Adolf ihm freien Zugang zu seinem Bücherschrank gewährt hatte. Shakespeare! Bald waren 42 Tote zu beklagen, die der Autor teils als Geister wieder auferstehen ließ, weil ihm sonst im letzten Akt das Personal ausgegangen wäre. Das Ergebnis: Statt des erwarteten familiären Entzückens brach seine Künstlerexistenz zum ersten Mal wie ein Kartenhaus über ihm zusammen, in einem furchtbaren Familientribunal. Für neun von zehn Jungdramatikern wäre dies das Ende ihrer Laufbahn gewesen, Richard Wagner aber widerrief keine Zeile seines Dramas und erkannte:

Was hier fehlt, ist die Musik!

Wir befinden uns demnach direkt an der Wiege des berühmten Wagnerschen Musikdramas. Das Wort und der Ton waren ihm wie zwei Hälften der auseinandergebrochenen Ursprache. Die tönende und die meinende Sprache - oder um es in einem späteren Vokabular zu sagen: Mimesis und Begriff - sind aufeinander verwiesen, erst aneinander würden sie wieder sprechend werden.

»Leubald und Adelaide«, die erste Katastrophe. Viele werden folgen. Aus jeder wird der Kapellmeister etwas weltentsetzter und entschlossener zu sich hervorgehen. Ein beliebter Gemeinplatz, selbst unter Wagner-Vertrauten, lautet, er sei ständig vor seinen Schulden auf der Flucht gewesen, und spätestens in Riga 1839 fing das an. Aber das ist nicht ganz richtig.

Richard Wagner war schon damals auf der Flucht zu sich selbst. Nach Paris, wohin sonst? An die Weltspitze der Oper! Die Schulden bedingten lediglich die Illegalität seines Grenzübertritts. Zu Richard Wagners aufrichtigem Erstaunen demonstrierte ihm die Weltspitze der Oper in größter Gelassenheit, wie gut sie ohne ihn auskam. In Paris lernte er statt der Höhen alle Tiefen des Daseins kennen, das Elend der großen Städte, materielle Not. Allerdings schrieb er hier auch die erste Oper, die er selbst als Wagner-Oper anerkannte: den »Fliegenden Holländer«.

Man mag ermessen, was der Erfolg in Dresden, die Berufung zum Königlich-Sächsischen Hofkapellmeister für ihn bedeutete. Und was es hieß, all das wieder zu riskieren. Für nichts und wieder nichts, wie seine Frau glaubte: für eine Revolution.

Kein Musiker seines Ranges hat sich je so rückhaltlos in den Dienst eines Umsturzes gestellt, sich zu seinem Mundstück gemacht: »Der eigne Wille sei der Herr des Menschen, die eigne Lust sein einzig Gesetz, die eigne Kraft sein ganzes Eigentum, denn das Heilige ist allein der freie Mensch, und nichts Höheres ist als Er.« Der freie Mensch, das freie Volk? Es ist das Psychogramm des schaffenden Künstlers, und so hoch dachte Wagner vom Menschen, dass der solche Verfasstheit, diesen Welt- und Selbstgenuss allen zugestand.

Nach dem niedergeschlagenen Dresdner Maiaufstand 1849, der ihn zum politischen Flüchtling machte, ergriff ihn ein tiefer Zivilisationshass, ja eine Zivilisationsphobie, ohne die man diesen Musiker nicht begreift. Richard Wagner war der Theoretiker, ja der Philosoph unter den Komponisten. Er schrieb nun statt Opern Traktate, von »Die Kunst und die Revolution«, »Kunst und Klima« bis zu »Oper und Drama«. Leider auch jenes fatale vom »Judenthum in der Musik«.

Die vor seinen Augen sich etablierende kapitalistische Ordnung erregte ihm Ekel. Und was war sein Platz darin? Er begriff, »daß in unsrer lieben Welt des Mein und Dein, der Arbeit und der Bezahlung - ich reiner Luxus bin.« In seinen selbstgewissesten Augenblicken wird er sagen: Nun, dann möge man ihn auch so behandeln! Reiner Luxus? Das hieß zugleich, ortlos zu sein. Er kann sich auf keine Klasse berufen, auf kein Manifest. Er ist Künstler. Sein Schicksal ist die unausweichliche Selbstmitgliedschaft. Sie ist Gnade und Fluch zugleich. Und wer mit dem »Tannhäuser«, dem »Lohengrin«, den »Meistersingern« und noch dem »Parsifal« Deutungsschwierigkeiten hat, gar zu viel Deutsches, Sagenhaftes und Tümelndes darin erkennt, der mache den Versuch, sie als Künstleropern, als Selbsterlösungsopern zu lesen.

Dieser Mann ist nur in Paradoxen zu begreifen. Seine Verschwendungssucht? Kam nicht zuletzt aus der Verachtung des Geldes. Der Fluchtpunkt seiner Welt aber war die Natur.

Was ist das Drängende in Wagners Musik? Sie ist immer wieder der Versuch, noch dem bislang Stummen Sprache zu geben, dem Kreatürlichen. So lange war Musik Tongebung nach oben, Verherrlichung Gottes. Bei Wagner kehrt sich das um: diese Musik ist Lobpreis nach unten, eine Solidaritätserklärung mit dem, was mit uns lebt.

Er hat, wie Nietzsche sagte, der Musik Reiche erschlossen, die bisher nicht zugänglich schienen. Mit ihm gelangt sie vollends ins Offene. Richard Wagner: Das ist nicht zuletzt die Emanzipation der Dissonanz. Der Tristan-Akkord steht am Eingang der modernen Musik.

Die kleinste Geste, nicht die größte, ist der Schlüssel zu Wagner.

Aufs Ganze gesehen, hält die Erscheinung stand, sagte Friedrich Nietzsche über den irdischen Teil des Genies. Und: »Er war der vollste Mensch, den ich gekannt habe.«

Kerstin Decker ist Autorin der Bücher »Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe« (Propyläen Verlag 2012, 416 S., geb., 19,99 €) und »Richard Wagner. Mit den Augen seiner Hunde betrachtet« (Berenberg Verlag 2013, 196 S., geb., 25 €).

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