Hysterie statt Fakten
Krebsmediziner kritisiert ignorante Debatte über Arzneimittelprüfungen in der DDR
nd: In der letzten Zeit berichteten Medien über Medikamententests westlicher Pharmafirmen in der DDR . . .
Tanneberger: Tests ist der falsche Begriff, wir reden hier über klinische Arzneimittelprüfung, einen notwendigen Bestandteil jeder Arzneimittelentwicklung. Die hat es gegeben, auch für Präparate ausländischer Hersteller. Aufwandsvergütungen von Prüfungen waren und sind bis heute in der ganzen Welt üblich.
Welchen Umfang hatten diese Prüfungen?
Der Bericht der Untersuchungskommission der Ärztekammer Berlin-West von 1991 weist aus, dass sich für unverhältnismäßig viele Prüfungen, wie von einigen Medien behauptet, keine Bestätigung fand. Diese Kommission hat mit 68 an den Arzneimittelprüfungen beteiligten Ärzten gesprochen, schriftliche Unterlagen von 120 Prüfungen eingesehen und neun Krankenhäuser und Forschungsinstitute besucht.
Nach welchen Standards wurden die Arzneimittelprüfungen durchgeführt?
Die Standards waren durch das Arzneimittelgesetz festgelegt und die Ärztekammer kam zu dem Ergebnis, dass die gesetzlichen Bestimmungen der DDR nicht hinter den Regelungen des bundesdeutschen Arzneimittelgesetzes zurückblieben, in einzelnen Punkten sogar darüber hinaus gingen.
Wo gingen sie darüber hinaus?
Ich könnte mir vorstellen, dass sich das auf die stärkere staatliche Kontrolle bezog. In diesem Fall kann sie positiv sein.
Wussten die Probanden, was da passiert?
Vor jeder Erprobung eines Medikamentes ist eine Einschätzung der Risiken und die vorherige schriftliche Zustimmung des Probanden nötig. Das war auch in der DDR so. Man kann das in der Zeitschrift für klinische Medizin der DDR aus dem Jahre 1988 nachlesen.
Halten Sie es für möglich, dass dies bei dem einen oder anderen Patienten damals nicht passiert ist?
Das ist eine komplizierte Frage. Man müsste sie dem jeweiligen Studienleiter stellen, und die Dokumente einsehen. Die Meinung von Patienten verdient immer unseren Respekt, aber vereinzelte Aussagen zu Jahrzehnte zurückliegenden Ereignissen oder Aufzeichnungen von Angestellten oder Zuträgern irgendwelcher DDR-Behörden ohne quellenkritische Bewertung zu benutzen, das ist unwissenschaftlich.
Können Sie für Ihr Verantwortungsgebiet ausschließen, dass es Todesfälle gegeben hat?
Studienbedingte Todesfälle sind mir nicht bekannt. Im Zusammenhang mit den vielfach behaupteten Todesfällen als Folge von Arzneimitteltests in DDR-Kliniken ist anzumerken, dass keineswegs geklärt ist, ob diese Todesfälle überhaupt auf die Einnahme eines Arzneimittels zurückzuführen sind.
Welche Firmen waren in der DDR aktiv?
Ich kann ihnen nur etwas zur Onkologie sagen, denn die einzelnen Forschungsbereiche waren in der DDR dezentralisiert. 1986 haben wir am Zentralinstitut für Krebsforschung eine Studie zum Tumornekrosefaktor (TNF) mit der japanischen Firma ASAHI durchgeführt.
Was ist daraus geworden?
Es ist kein Medikament geworden, das heute angewendet wird. Damals war man jedoch in der ganzen Welt voller Erwartung eines großen Durchbruchs in der Krebstherapie. Die Firma ASAHI war die erste, die das Medikament gentechnisch herstellte. Es war eine Anerkennung, dass wir an der internationalen TNF Forschung mitwirken konnten.
Sie können mit Sicherheit sagen, dass das alles ordentlich gelaufen ist?
Jeder Patient ist aufgeklärt worden. Die Ergebnisse kann man in einem weltweit beachteten Buch nachlesen, das 1988 im Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg vorgestellt worden ist. Damals hat der spätere Nobelpreisträger Harald zur Hausen mit dabei gesessen und Beifall geklatscht, als wir die Studie vorgetragen haben.
Umso mehr fragt man sich, warum immer so getan wird, als ob damals ganz Ungeheuerliches vor sich ging.
Darauf habe ich eigentlich auch keine Antwort. Ich kann nur sagen, ich bin sehr erschrocken über eine solche Hysterie, zumal die Dinge 30 oder 40 Jahre zurückliegen. Damals hat man Vieles in der Forschung auch noch anders beurteilt. Vielleicht gefällt es der Politik derzeit gerade, gegen die »böse Pharmaindustrie« Stimmung zu machen? Ich schließe auch nicht aus, dass die guten Ergebnisse vergessen gemacht werden sollen, welche die DDR in der Krebsbekämpfung hatte, das populationsbezogene Krebsregister beispielsweise. Was jetzt in vielen Medien zu lesen war, ist Sensationsjournalismus und Ignoranz gegenüber der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Gebietes, die bereits stattgefunden hat.
An der Universität Greifswald?
Hier hat der Lehrstuhl für Geschichte der Medizin im Jahre 2010 ein großes Meeting mit Wissenschaftlern aus Ost und West unter dem Titel »Medizinische Ethik in der DDR. Erfahrungswert oder Altlast?« durchgeführt. Die Ergebnisse sind 2010 von Hartmut Bettin und Mariacarla Gadebusch Bondio veröffentlicht worden. Jeder kann sich dieses Buch bestellen und die sauber mit Dokumenten belegten Fakten nachlesen.
Stattdessen immer wieder ein neuer medialer Aufschrei . . ..
Das ging 1991 schon los, sicher auch mit dem traurigen Hintergrund, keine Erfahrungen aus dem Gesundheitswesen der DDR übernehmen zu wollen. Dabei täten diese auch der Onkologie des Jahres 2013 manchmal noch gut.
Welche zum Beispiel?
Die sehr pragmatische Früherkennung und die Zentralisierung der Therapie sind solche Beispiele. In der DDR galt, wenn wir für eine Million Menschen ein Behandlungszentrum haben, dann ist die Erfolgsquote höher. Ein Operateur, der die gleiche Sache hundert Mal im Jahr macht, kann das besser. Zahlen stützen diese Strategie. In der DDR starben gemessen an der Gesamtbevölkerung zehn Prozent weniger Menschen an Krebs als in der Bundesrepublik. Das belegt eine internationale Studie über die Jahrgänge 1978 bis 1982, veröffentlicht vom Bundesgesundheitsamt. Dort hatte bestimmt niemand Interesse daran, irgendetwas in der DDR zu beschönigen.
Wo sehen Sie die Gründe für die bessere Überlebensrate?
Ein zentralistischer Staat wie die DDR hat es manchmal leichter, unpopuläre aber vernünftige Dinge für die Gesundheit der Menschen, durchzusetzen Darüber lohnt es sich vielleicht nachzudenken und nicht stattdessen das redliche und seriöse Wirken von Medizinern in der DDR und darüber hinaus die weltweit bis heute nie ganz risikofreien Arzneimittelerprobungen in eine dunkle Ecke zu stellen. Dies schadet dem Vertrauen zur Medizin, dem medizinischen Fortschritt und damit nachhaltig den Patienten.
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