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In Kreuzberg vernetzen sich sehr heterogene Mieter und kämpfen gemeinsam gegen ihre Verdrängung

  • Haidy Damm
  • Lesedauer: 6 Min.

Über Nacht ist es entstanden und heißt auch so: Gecekondu. Das türkische Wort bezieht sich auf altes osmanisches Recht und bedeutet, wer über Nacht ein Haus errichtet, darf bleiben. Zunächst bauten die Mieter am Kottbusser Tor in Kreuzberg allerdings nur einen Bretterverschlag und Zelte auf, dann zum Winter folgte ein Container und jetzt steht zwischen der U-Bahn und den Hochhäusern ein kleines Holzhaus. Hier kann jeder vorbeikommen, es gibt Tee und Kaffee gegen Spende, manchmal Konzerte oder Lesungen. Doch in erster Linie ist ein sozialer Ort entstanden, an dem sich Menschen treffen und sich der Protest gegen steigende Mieten öffentlich zeigt.

Miete oft höher als die Hälfte des Einkommens

Seit einem Jahr steht das Protestcamp, im Frühjahr 2012 hat hier noch niemand geglaubt, dass sie so lange bleiben. »Höchstens zwei Wochen haben die meisten von uns prophezeit«, erklärt Sandy Kaltenborn, der die Proteste mit organisiert. Er wohnt seit 23 Jahren in Kreuzberg. Viele hier haben migrantische Wurzeln, leben seit Generationen in Berlin. Sie waren es, die in den 1970er Jahren den damals verfallenden Westberliner Stadtteil am Rande der Mauer lebenswert gemacht haben. Heute müssen die Bewohner rund 50 Prozent oder sogar mehr ihres Einkommens für die Miete aufbringen. Für rund 40 Prozent der Familien heißt das, es bleiben etwa 200 Euro monatlich zum Leben, wie eine Umfrage von Kotti & Co vor eineinhalb Jahren ergab.

Und jedes Jahr steigt die Miete. Durch die sogenannten Instandhaltungspauschalen lag die Erhöhung im Frühjahr 2011 teilweise bei 80 Euro. »Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht«, erinnert sich der 44-Jährige. Zunächst entwarfen Bewohner eine Unterschriftenliste für die Eigentümer der rund 1000 Sozialwohnungen. Als es darauf keine Reaktion gab, haben einige der Nachbarn zu einer Mieterversammlung eingeladen. Etwa 20 Menschen kamen, seitdem treffen sie sich regelmäßig. »Unser Ziel war und ist es, hier zu bleiben. Wir sehen uns nicht als politische Gruppe, wir sind Nachbarn, die sich organisieren. Wir wollen, dass unsere Miete sinkt. Es geht uns erstmal nicht um eine andere Gesellschaft, sondern darum, hier wohnen bleiben zu können.«

Irgendwann war klar, »uns reicht es, wir gehen auf die Straße«, beschreibt Sandy. Aber mit dem Protestcamp brauchte es eine neue Verbindlichkeit. Zwei Familien kümmern sich jetzt um die Infrastruktur, andere arbeiten in Arbeitsgruppen zusammen, seit Neustem gibt es eine Jugendgruppe. Es ist eine fragile Gemeinschaft, hier kommen alle zusammen, von atheistisch bis religiös, von links bis rechts, verschiedene sexuelle Orientierungen, Jugendliche, Rentner, Akademiker, Hartz-IV-Betroffene. Dennoch, da ist sich Sandy sicher, »wir kennen uns seit Langem, begegnen uns mit Respekt und haben Vertrauen aufgebaut. Das hält zusammen.«

Die Protestformen erweiterten sich, die erste von mittlerweile 18 Lärmdemos folgte. Immer wieder erschallt auf diesen Demonstrationen zwischen den Geräuschen, die Kochtöpfe, Trommeln und Tröten hergeben: »Steigende Mieten stoppen«. Ihr Ziel: nicht mehr als vier Euro pro Quadratmeter. In diesem Jahr wurde die Miete erstmals nicht erhöht, gedeckelt oder gar gesunken ist sie noch nicht.

Doch inzwischen gehen die Forderungen weiter, die Mieter wollen eine Rekommunalisierung des Sozialen Wohnungsbaus. »Größenwahnsinnig, aber alternativlos« nennt das Sandy. Tatsächlich, es ist ein großes Wort und bedeutet hohe Ausgaben für die klammen Kassen Berlins. Um ein Handeln zugunsten einer nachhaltigen sozialen Wohnraumversorgung zu gewährleisten, setzen sie auch auf Gespräche mit der Politik: »Wir haben von Beginn an gesagt, wir kämpfen auf allen Ebenen. Für ein Projekt dieser Tragweite brauchen wir eine gesellschaftliche Mehrheit«, sagt Sandy. Vereinnahmen lassen sie sich dabei nicht: »Einladungen zu Wahlkampfveranstaltungen der SPD lehnen wir in diesen Tagen meist ab.«

Gewonnen haben sie zumindest schon eines: Hier vernetzen sich diejenigen, die aus der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt und tagtäglich mit Rassismus konfrontiert sind. »Es ist ein Erfolg, dass die Menschen hier anfangen, über ihre Rechte nachzudenken und ihre Angst überwinden«, sagt Sandy. Kotti & Co sind seiner Meinung nach neben dem Bündnis gegen Zwangsräumungen das einzige stadtpolitische Bündnis, das die Nichtrepräsentierten repräsentiert. »Denn das ist es, was hier passiert: Berlin entledigt sich seiner Armen.«

Diese Entwicklung thematisiert auch ein anderes Bündnis, das sich seit rund einem Jahr in die Debatte um Verdrängung aus der Innenstadt einmischt. Das Bündnis »Zwangsräumung verhindern« versteht sich explizit als politische Aktionsgruppe und organisiert Blockaden und Aktionen gegen Zwangsräumungen. Geschätzt finden davon in Berlin täglich 26 statt, verlässliche Zahlen gibt es nicht.

Drei von ihnen treffe ich in einem Stadtteilcafé in Kreuzberg. Sara, Lutz und Susanne verstehen sich als Aktivisten, wenn sie auch alle Mieter sind. Dabei kann die Grenze zum Betroffenen fließend sein. Lutz ist seit Kurzem von einer Zwangsräumung bedroht. Eigentlich geht der Weg umgekehrt: Mieter kommen vorbei, werden zeitweise Teil des Bündnisses, einige bleiben.

Betroffene bringen neuen Schwung mit

Wichtig ist der Gruppe, dass Bewohner und Aktivisten gemeinsam agieren. Dafür haben sie inzwischen eine ausgefeilte Struktur. Es gibt verschiedene Arbeitsgruppen und ein Gesamtplenum. Wer als bedrohter Mieter mit dem Bündnis zusammenarbeiten will, trifft sich zunächst mit einer Unterstützergruppe, die den Fall ins Gesamtplenum trägt. »Diesen ersten Schritt erleben viele Betroffene als befreiend, denn wir erzählen ihre Geschichte aus antikapitalistischer Sicht. Bei uns geht es nicht um die mangelnde Leistungsfähigkeit oder darum, dass der einzelne Schuld an seiner Situation ist«, erzählt Sara.

Auf dem Plenum entscheiden dann alle zusammen, im Konsens. Wenn eine Idee nicht durchkommt, wird sie auch mal fallengelassen. »Zu tun haben wir ja genug«, lacht Sara. Denn spätestens seit der Räumung der Familie Gübol aus Kreuzberg, die drei Mal verhindert werden konnte und schließlich mit einem massiven Polizeieinsatz durchgesetzt wurde, kommen immer neue Betroffene auf das Bündnis zu. Aber auch die Zahl der Mitstreiter wächst. Hinzukommende bringen dabei die Struktur nicht durcheinander, sondern neuen Schwung. »Als eine Zwangsräumung in der Reuterstraße anstand, waren wir eigentlich am Ende unserer Kapazitäten«, erinnert sich Sara. »Dann haben zwei der Neuen gesagt, sie haben Lust, sie machen das. Das war toll.«

Das Bündnis agiert offensiv, immer. Das bringt auch die Polizei auf den Plan. Denn der Berliner Senat reagiert bisher in erster Linie sicherheitspolitisch. Susanne erinnert sich an einen Besuch bei der Wohnungsbaugesellschaft Gewobag. »Wir waren zu fünft und wollten mit denen reden. Als wir ankamen, stand die ganze Straße voller Polizeiwannen. Das sah verrückt aus.« Auch der Polizeieinsatz bei der Zwangsräumung in der Lausitzer Straße 8 wurde scharf kritisiert, und bei der Trauerkundgebung für Rosemarie F., die zwei Tage nachdem sie aus ihrer Wohnung geräumt worden war starb, waren die Teilnehmenden fassungslos angesichts der massiven Polizeiabsperrungen.

Die gewalttätigste Form der Verdrängung

Die Abgrenzung zur Sozialarbeit ist dabei immer eine Gratwanderung, denn »die Betroffenen kommen ja zu uns in einer ziemlich emotionalen Ausnahmesituation. Ihre Hoffnungen können wir zwangsläufig nicht immer alle erfüllen«, sagt Susanne. Ihr Ziel bleibt aber klar: Zwangsräumungen als gewalttätigste Form der Verdrängung müssen ein Ende haben. Dabei werden diese mit dem neuen Mietrecht sogar vereinfacht. Als Gruppe, die vor dem Bundestag protestiert, sehen sie sich dennoch nicht. »Wir fragen nicht, was steht auf der Agenda, sondern wir machen am einzelnen Wassertropfen das ganze Drama sichtbar«, erklärt Sara. Ob sie damit erfolgreich sind? Lutz fasst es so zusammen: »Jede verhinderte Zwangsräumung ist ein Erfolg, nicht nur für die einzelnen Betroffenen, sondern auch, weil damit das Recht uneingeschränkt über Eigentum zu verfügen angegriffen wird.«

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