Bissige Helfer
Moderne Medizin entdeckt die Blutegel wieder
Wenn der Blutegel anbeißt, spüren die Patienten einen kurzen Schmerz - eben so, als hätten sie eine Brennnessel berührt. Mehr nicht. Dennoch müssen viele Menschen zunächst ihren Ekel überwinden, um sich die Saugwürmer setzen zu lassen. Wem sie aber einmal geholfen haben, der vergisst meist jeglichen Widerwillen. »Seit etwa fünf Jahren beobachten wir ein starkes Interesse«, sagt Prof. Andreas Michalsen, Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin.
Der Biss des Blutegels hat verschiedene Effekte. Beim Saugen spritzt der Wurm Speichel in die Wunde seines Wirts, damit das Blut fließt. Dieses Sekret enthält Michalsen zufolge einen »Cocktail« aus 30 verschiedenen Wirkstoffen, die unter anderem die Blutgerinnung hemmen, Entzündungsprozesse eindämmen und Schmerzen lindern. Der bekannteste der Stoffe ist der Gerinnungshemmer Hirudin, der als Medikament zur Vorbeugung von Thrombosen eingesetzt wird.
Dafür, dass Blutegel bei Gelenkschmerzen helfen, gibt es wissenschaftliche Belege: Vier Studien ergaben, dass eine Behandlung mit Blutegeln bei Kniearthrose Schmerzen lindert. »Bei etwa 80 Prozent der Patienten bessern sich die Beschwerden nach einer einmaligen Behandlung«, sagt Michalsen, der einen Großteil der Untersuchungen leitete. »Auch bei Tennisellenbogen gibt es Belege für die Effektivität der Blutegel«, berichtet er. Derzeit haben Michalsen und sein Team eine neue Studie gestartet, bei der sie die Egel an Patienten mit chronischen Rückenschmerzen testen. Die Ergebnisse sollen im Herbst vorliegen. »Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir auch hier gute Effekte nachweisen können«, sagt Michalsen.
Außerdem werden Blutegel erfolgreich in der plastischen Chirurgie angewandt: Sie fördern etwa bei Hauttransplantationen die Durchblutung und sorgen dafür, dass die verpflanzten Hautlappen besser anwachsen. Bewährt hat sich die Therapie auch bei Krampfadern und oberflächlichen Venenentzündungen. Für die vielen weiteren Anwendungsbereiche, die in der Naturheilkunde angegeben werden, gibt es laut Michalsen keine wissenschaftlichen Belege: »Da liegen nur Erfahrungswerte vor«, sagt er. So sollen Blutegel unter anderem bei Mittelohr- und Nasennebenhöhlenentzündungen, Furunkeln, Prostataentzündungen und Migräne helfen. »Man muss davon ausgehen, dass es oft auch Placebo-Wirkungen gibt«, sagt Michalsen.
Medizinische Blutegel kommen aus speziellen Zuchtbetrieben. Als »lebende Medikamente« gelten für sie strikte Bestimmungen. »Um sicher zu gehen, dass sie keine Viren übertragen können, leben die Egel bei uns acht Monate lang in Quarantäne, bevor sie an Apotheken, Heilpraktiker oder Kliniken verschickt werden«, berichtet Michael Aurich, Biologe bei der »Biebertaler Blutegelzucht«. Das bedeutet, dass die Tiere in dieser Zeit nicht gefüttert werden und somit auch keine Erreger aufnehmen können. Die lange Abstinenz muss sein, da etwa Hepatitis-B-Viren in Blutegeln mehrere Wochen lang ansteckend sein könnten, wie Aurich erklärt. In dem Biebertaler Betrieb leben bis zu 500 000 Egel - die Hälfte davon stammt aus eigener Züchtung, die andere Hälfte kommt aus Südosteuropa, wo Blutegel noch relativ häufig sind. Gefüttert werden die Tiere mit Pferdeblut, das in Kunstdärmen »wie eine Art Blutwurst« ins Wasser gelegt wird, wie Aurich erklärt.
Bis ins Jahr 2006 konnten Therapeuten vollgesogene Egel an den Biebertaler Zuchtbetrieb zurückschicken: Dort gab es einen »Rentnerteich« für ausgediente Würmer. Inzwischen sei der Tümpel aber wegen des Risikos, dass Krankheitskeime vom Menschen auf die Natur übergreifen, verboten, erklärt Aurich. Könnten Patienten Blutegel denn als Haustiere halten? »Das wäre möglich, ist aber mit einem sehr großen Aufwand verbunden«, sagt der Biologe. Egel haben nämlich hohe Ansprüche an Sauberkeit.
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