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Nicht mehr nur stummes Wahlvieh sein
Politische Partizipation wider Demokratieverdruss
Über die Existenz einer politischen Krise bzw. einer Krise der Politik gibt es weitgehendes Einvernehmen. Von rechts bis links wird in Deutschland darüber geklagt und eine Veränderung beschworen. Eine neue Studie setzt die von Serge Embacher bereits vor zwei Jahren vorgelegte Untersuchung »Demokratie! Nein danke? Demokratieverdruss in Deutschland« (vgl. ND v. 17. 3. 2010) mit umfänglichen Datenmaterial fort. Hie wie da werden alle wesentlichen Krisenmerkmale benannt, zuvörderst der Vertrauensverlust in die Parteien bis hin zum Zweifel an die Funktionstüchtigkeit des demokratischen Systems infolge der wiederkehrenden Erfahrung der Wähler, das Wahlversprechen nach der Wahl gebrochen werden. Die Folgen sind Politikerverdrossenheit, Wahlverweigerung, neonazistische Stimmengewinne, Parteienzersplitterung etc.
Das jedem Wahltag folgende Koalitionsgeschacher von Politikprofiteuren verbirgt, was immer öfter die eigentliche Krise des demokratischen Systems darstellt: das Herzstück jeder Demokratie, das Mehrheitsprinzip, ist ersetzt durch das einfache Majoritätsprinzip. Das auf Parteienkonkurrenz beruhende Wahlsystem zwingt dann zur Regierungsbildung durch jene, die - mit was für faulen Kompromissen auch immer - gemeinsam eine Majorität der Mandate zusammenbringen, unbeschadet einer etwaigen Minderheit der tatsächlich erreichten Wählerstimmen (von der wachsenden Zahl der Wahlverweigerer von 30 oder mehr Prozent ganz zu schweigen). So ist es oft nur ein Drittel der Staatsbürger, das praktisch Einfluss auf die Zusammensetzung der Regierung nimmt - ein Rückfall in eine Art von feudalistischem Dreiklassenwahlrecht.
Eigentlich hätten sich die Autoren das Fragezeichen in ihrem Buchtitel sparen können. Allerdings: Die erhobenen Daten zeigen, dass knapp ein Drittel (37 Prozent) sehr großes Interesse an Politik bekunden, sich aber mehr noch, nämlich 60 Prozent eine stärkere Partizipation am politischen Geschehen wünschen. Die Differenz erklärt sich offensichtlich aus den praktisch bzw. verfassungsmäßig eingeschränkten Möglichkeiten direkter Politikteilnahme. Der Verfassungsgeber hat sich zwar formell durchaus für Instrumente der direkten Demokratie ausgesprochen, schränkte aber zugleich »die Volksrechte in der Nutzbarkeit so stark ein, dass diese im politischen Entscheidungsprozess eine stumpfe Waffen bleiben und im realen Verfassungsleben nur eine geringe Rolle spielen«, wie in der Studie von Frank Decker, Marcel Lewandowsky und Marcel Solar konstatiert wird. So verwundert es nicht, dass 47 Prozent der zum »Wahlvieh« herabgewürdigten Bürger erwägen, bei der nächsten Bundestagswahl nicht an die Urnen zu treten. Fast drei Viertel sehen sich als mögliche Wechselwähler. Das dürfte so bleiben angesichts der Erfahrung der abnehmenden Möglichkeiten, mittels Wahlen Einfluss auf die Politik sowohl im eigenen Land respektive eigenen Bundesland oder auch in der Europäischen Union zu nehmen. Eine wesentliche Rolle spielt nach Ansicht der Autoren darüber hinaus das sozial-ökonomische und sozial-kulturelle Auseinanderdriften der Bevölkerung. Und zwar, wie hinzufügt sei, in eine nunmehr bereits Drei-Drittel-Gesellschaft.
Die Studie belegt, dass Wahlen und Parteien an legitimatorischer Kraft eingebüßt haben und sich dieser Trend fortzusetzen droht. Die Empfehlung der Autoren: das Dreiecksverhältnis von Partizipation, Inklusion und Repräsentation enger und damit demokratisch produktiver gestalten. Als entscheidendes Hindernis hierfür heben sie die Tatsache der »Ungleichheit« der Menschen hervor. Formelle rechtliche und politische Gleichheit sei nicht hinreichend. Das politische Gleichheitsversprechen der Demokratie ist an ein Mindestmaß materieller und sozialer Gerechtigkeit gebunden.
Frank Decker/Marcel Lewandowsky/Marcel Solar: Demokratie ohne Wähler? Neue Herausforderungen der politischen Partizipation. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn. 208 S., br., 18 €.
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