Welcher Vogel kreist hier?
»Shakespeare Nights« in Schwerin
Die Möwe ist ein weitgehend unterschätzter Mitspieler in Tragödien. Tschechow hat zwar ein Stück nach diesem Vogel benannt, aber bekanntlich spielt die Möwe nur ab dem Moment eine Rolle, da sie bereits tot ist. Hier im Hof des Schweriner Doms jedoch leben sie, kreischen fast in jede Szene hinein. Möwen als maritimes Leitmotiv bei Shakespeare? Dabei denkt man doch etwa bei »Macbeth« nicht nur an die drei Hexen in wüster Gegend, sondern auch an jene Krähen, die von Unheil künden.
Unheil droht auch den Theatern in Mecklenburg-Vorpommern. Seit Langem schon versuchen die Landesregierung und ihr Bildungsminister Brodkorb, sie bis auf den Nullpunkt herunterzusparen. So steht selbst das traditionsreiche Mecklenburgische Staatstheater Schwerin immer wieder knapp vor der Insolvenz. Ein würdeloses Spiel! Da ist man dankbar, heute nur die Möwen kreisen zu sehen (und zu hören), nicht die Krähen oder gar die Geier!
Das Theater gibt sich jedoch nicht nur kämpferisch gegen die ignorante Landespolitik, nein besser noch: spielerisch. »Shakespeare Nights« als Sommertheater. Der ganze Shakespeare in neunzig Minuten? Das gab es schon, aber so übermütig wie in dieser Spielfassung von Dirk Audehm, der auch die Regie führte, noch nicht.
Freiluft-Theater hat allerdings eigene Gesetze, ist immer auch Jahrmarkt, gleich ob die Möwen schreien, die Autos hupen oder es zu regnen beginnt, die Pointe muss ins Ziel. Und damit man sie noch in der letzten Reihe versteht, sollte man etwa gröber zupacken. Darin besteht Reiz und Gefahr solcher Art von Theater draußen vor der Tür. Und siehe, es passt zu Shakespeares fröhlichen Mörderspielen! Denn wenn nach Peter Hacks Shakespeare das ist, was wir alle wollen, aber nicht können, dann ist damit doch wohl gemeint: zart und derb zugleich, mit simpler Story und gleichzeitig unaufklärbaren Implikationen, simple Jahrmarktsposse ebenso wie kompliziertes Machtmodell, Liebesgeschichte wie auch Geschichtsparabel. Das ist es, wovon sämtliche Fernsehspiel-Redakteure heute träumen. Aber kein Shakespeare in Sicht, der große und keine Geschichten zugleich erzählt?
Man muss nicht alles neu erfinden, man darf nur nicht alles vergessen. Daran erinnern uns die »Shakespeare-Nights«. Ein Spiel mit Zitaten, mit Sequenzen aus verschiedensten Shakespeare-Stücken, die so wie hier verwoben, immer eine einzige Geschichte erzählen. Es ist die ewig gleiche Komödie des Menschen, zu klein für seine großen Pläne zu sein! Oder anders gesagt, er gelangt ans Ziel mit List und Täuschung, aber dann kommt etwas dazwischen, was er nicht planen konnte: die unausrechenbare Reaktion des anderen, der die Täuschung für Wahrheit nimmt. Und da ist die Zeit niemals auf Seiten dessen, der sich einen unerlaubten Vorteil verschaffen will. In »Antonius und Kleopatra« lässt sich Kleopatra totsagen, um sich vor Mark Antonius Rache zu schützen. Die falsche Nachricht ihres Todes erschüttert ihn jedoch so, dass er sich der Niedrigkeit seines Verdachts bewusst wird und sich tötet. Kleopatras Plan ist zu gut aufgegangen - und nun bleibt für sie ebenfalls nur, sich mittels Schlangengift tatsächlich zu töten. Die publikumswirksame Dramaturgie Shakespeares zeigt sich darin, dass er beiden Sterbenden einen Augenblick der Erkenntnis zubilligt. Sie begreifen den Wahnsinn ihrer Taten, bereuen und lieben sich in diesem Moment so wie nie zuvor. Zeit ist Frist - und diese intensiviert Leben! Dasselbe passiert auch in »Romeo und Julia« oder in »Othello« - die Einsicht kommt immer zu spät.
Wer Shakespeare ein wenig kennt, dem ist das nicht neu - aber so wie hier das Verschiedenste zusammenklingt, blicken wir wie in Shakespeares Betriebshandbuch zur Verfertigung von Stücken. Wir durchschauen ihn völlig - aber das hilft uns wenig. Es bleibt in aller Klarheit doch alles im Dunkeln. Das meinte wohl Hacks, wenn er andeutet, dass alle, die nach Shakespeare kamen, Stümper darin blieben, ihn nachzuahmen.
Dirk Audehms witzig-kluge Collage zeigt den Weg, den Mecklenburg-Vorpommerns Theater gehen müssen, um nicht schrittweise in die Unsichtbarkeit hinein gespart zu werden. Rausgehen, Plätze in der Stadt besetzen und Leuten, die sonst nicht ins Theater kommen, beweisen, dass man hier besser unterhalten wird als zu Hause vor dem Fernseher! So macht dieses Sommertheater auf unschätzbare Weise effektiver Werbung für die Notwendigkeit des Theaters als die ebenso notwendigen, jedoch auch ermüdenden Finanzierungsdebatten. Hier ist jenes Moment jederzeit spürbar, um das es doch im Theater gehen soll: die Lust am Spiel mit dem Widerspruch von Geist und Leben, von Liebe und Macht. Man nimmt die Übersetzung von Schlegel und Tieck. Die ist immer noch schön und spart nebenbei auch das Geld für Übersetzungstantiemen.
Im Freilufttheater sortieren sich Spieltypen neu. Da ist Andreas Lembcke, ohne dessen Situationskomik der Abend nicht so funktionieren würde, wie er dann funktioniert. Er ist die Doppelfigur Güldenstern und Rosenkranz, die beiden intriganten Freunde (Spitzel und Mörder!) von Prinz Hamlet: ein Spielantreiber par excellence. Hamlet selbst ist noch ein Schauspielschüler (Amadeus Köhli), der, von seiner dunklen Hautfarbe prädestiniert, immer den Finger hebt, wenn Othello dran ist, aber er soll hier den Hamlet spielen. Das ist schwer und über »Sein oder« kommt er lange nicht hinaus. Und als er dann doch beim »Nichtsein« anlangt, ist der Abend auch schon zu Ende. Plötzlich funktioniert der allzu oft gehörte Monolog wie neu.
Die drei das Unheil verheißenden Hexen aus »Macbeth« (Isa Weiß, Jana Kühn, Samira Hempel) sind gleich den ganzen Abend über als besenschwingendes Gesangstrio gebucht. Lady Macbeth (Anja Werner) hat ihren Flachmann immer parat, ihre schwarze Seele erklärt ihr Alkoholproblem. Denn Anstiftung zum Mord macht selten glücklich. Aber so ganz fest sind die Rollen nicht verteilt, plötzlich ist jeder doch wieder ein anderer als er eben noch war, dann aber aus einem anderen Shakespeare-Stück. Hier müssen alle auf der Hut sein, Schauspieler und Zuschauer.
Wer Henry V. noch nicht kannte, der lernt ihn (sie: Brit Claudia Dehler) hier nebenbei kennen als einen sein riesiges Schwert schwingenden Helden, der wenig zur Unterhaltung der Zuschauer beizutragen gedenkt, schließlich ist das hier eine bittere Tragödie. Zwei Harlekine (Özgür Platte und Frank Buchwald) kommentieren in Hofnarren-Manier die große Welt im kleinen Hof des Doms. John R. Carlson macht die Musik, die sich keiner Stilrichtung und keiner Zeit letztgültig zuschlagen lässt und ein im Programmheft »schwarzer Vogel« genanntes buntes Huhn (Antje Binder) lässt ahnen, dass die schnöde Weltgeschichte zuletzt nur ein Märchen, wenn auch ein böses ist. Es kommt darauf an es gut, also effektvoll, zu erzählen.
Theaterkrise? Die Vorstellungen von »Shakespeare-Nights« sind schon fast ausverkauft. Auf sein Theater kann Schwerin stolz sein, auf seine Politiker nicht.
Weitere Vorstellungen vom 27. bis 30.6. und vom 4. bis 7. Juli
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