Barrikadenkampf und Naturkulisse

»Les Misérables« als mitreißendes Domplatz-Open-Air in Magdeburg

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.

Möglicherweise waren selbst die Inszenatoren überrascht, welch prächtige Kulisse ihnen Magdeburgs gotischer Dom bot. So drehte man gegenüber vorherigen Freilichtaufführungen die Bühne, dass der Kirchenbau Teil des Bühnenbilds wurde. Von der Tribüne für die Zuschauer sieht man die Ausgrabungen zum ottonischen Dom; auch die barocken Gebäude um den lindenbestellten Platz bringen historisches Ambiente ein.

Idealer Platz für »Les Misérables«: Was Victor Hugo 1862 mit gewaltiger Resonanz als romantisch-sozialkritischen Roman publizierte, formten 1980 Texter Alain Boublil und Komponist Claude-Michel Schönberg zum Musical um, das seither die Welt eroberte. In 47 Ländern erreichte es über 60 Millionen Zuschauer, jedoch in einer 1985 erweiterten Neufassung, die auch dem Uneingeweihten die den Juniaufstand im Frankreich des Jahres 1832 umspielende Story erklärt.

Eine dramatische Geschichte zu packender Musik in einer geschlossenen Inszenierung beim 5. Domplatz-Open-Air. Und welch einen Spielort hat Jens Kilian entworfen! Die Story ereignet sich in einem hölzernen Halbrundbau, der Shakespeares Globe Theatre zitiert und über drei Etagen reicht. Zehn Meter ist er hoch, läuft in himmelstürmenden Streben aus und hat die verwitterte Farbe des Kirchengemäuers. Zwei Segmente sind auf Schienen für Verwandlungen verschiebbar. Für den erfahrenen Regisseur Gil Mehmert der perfekte Tummelplatz zum Austoben szenischer Fantasien.

Ausrollbare Hänger machen aus dem Holzbau flink den Steinbruch, in dem Sträfling Jean Valjean bis zur Freilassung schuftet und in den Klagechor der anderen Häftlinge einstimmt. Als er nach 19 Jahren Haft endlich freigelassen wird, überschlagen sich die Geschehnisse. Man zahlt dem Vorbestraften bloß den halben Lohn, ein Zimmer vermietet man ihm nicht. Doch in zähem Fleiß bringt er es zum Bürgermeister eines Städtchens, fühlt sich berufen, Gutes zu tun, nimmt sich der Tochter der sterbenden Arbeiterin Fantine an.

Verfolgt wird er zwei Akte lang von Javert, einem fanatischen Gesetzesrächer: Er vertritt ein vermeintliches, da staatlich formuliertes Recht, der geläuterte Valjean aber lebt es. Und gerät auf der Flucht vor seinem Häscher in die blutigen Wirren jenes Pariser Aufstands. Cosette, Fantines Tochter und nunmehr Valjeans Protégé, verliebt sich in Student Marius, den seinerseits Éponine, Tochter der einstigen Pflegeeltern von Cosette, aussichtslos begehrt.

Spiel auf allen Gerüstebenen: Vom intimen Armendomizil Fantines über Valjeans Wohnung und diverse Fluchtwege bieten sie Platz für das zwielichtige Wirtshaus, in dem Cosette zunächst Fron tun muss, ehe Valjean sie freikauft, bis zur Freifläche voller Barrikaden, mit denen sich die Aufständischen gegen die Armee zu wehren suchen. Die repräsentieren Schüsse, Pulverdampf sowie ein berittener Herold auf lebendigem Pferd.

Mehmert setzt auf Tempo, schafft dennoch Momente des Innehaltens. Er kann sich auf eine verschworene Darstellermannschaft stützen. Chor, Orchester, Solisten leisten Außerordentliches. Ein Treffer: Musicalstar Thomas Borcherts Valjean, stimmlich überzeugend, darstellerisch von mitreißender Präsenz und Intensität, bis hin zum mit Falsett gesungenen Flehen um Schutz für seine Anbefohlenen. Widerpart im fast philosophischen Duell ist ihm vom Magdeburger Ensemble Markus Liske als Javert.

Musikalisch haben die Frauen die Nase vorn, vom Melos ihrer Songs bis zur stimmlichen Bravour: Die Fantine der Bettina Mönch sucht ihresgleichen; Christina Patten macht Éponines Liebe zu Marius, als der Oliver Arno zwischen Revolution und Gefühl jugendstürmerisch pendelt, aufwühlend zum Erlebnis. Magdeburg steuert mit der Cosette Teresa Sedlmairs Sopranwohlklang, mit Peter Wittigs habgierig schmierigem Wirt entlarvende Charakterkunst bei. Von dessen Couplet über chorale Wucht bis zu Ça ira-Anklängen zieht die Musik alle Register. Frankreichs Tricolore weht, der Mond geht seinen Weg, von innen leuchtet Magdeburgs Dom, als sei er Notre-Dame de Paris.

Aufführungen bis 20.7.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -