»Ja, meine Freunde, wir haben euch ausspioniert«

Was ist neu an den Informationen von Edward Snowden und warum nennt man ihn einen Verräter?

  • Rainer Rupp
  • Lesedauer: 6 Min.

Für alle Menschen rund um den Globus, die ihre Privatsphäre vor illegalen Schnüffeleien des Staates geschützt wissen wollen, ist Edward Snowden, der ehemalige Angestellte der US-amerikanischen National Security Agency (NSA), ein neuzeitlicher Freiheitsheld. Zurecht, denn für seine Überzeugung, die US-amerikanische Bevölkerung und die ganze Welt sollten über die von der Obama-Administration gedeckten, verbrecherischen Aktivitäten der US-Nachrichtendienste unterrichtet werden, hat er nicht nur eine materiell lukrative Karriere geopfert, sondern auch erhebliche Risiken für Freiheit und Leben in Kauf genommen.

Seine in den bisher veröffentlichten zwei Interviews geschilderten Beweggründe sind auf Grund autobiografischer Erfahrungen des Autors dieser Zeilen schnörkelfrei nachvollziehbar. Dies gilt insbesondere für Snowdens Metamorphose vom »Saulus zum Paulus«, d. h. vom gläubigen Anhänger der offiziellen US-Propaganda vom Kampf der Guten gegen die Welt der Bösen für »Freedom und Democracy«, über die Phase wachsender Zweifel und der Erkenntnis, dass auch er nur ein Opfer der gigantischen US-Lügenmaschinerie war - bis hin zum Entschluss, den sich über alle Gesetze stellenden US-Regierungsapparat zu bekämpfen. Und zwar mit der massenhaften Veröffentlichung unanfechtbarer Dokumente der Verbrechen und Verfassungsverstöße der Obama-Administration.

Für die US-Regierung und die von ihr gefütterten Presstituierten der großen Konzernmedien ist der so genannte Whistleblower Snowden unisono ein Verräter und Spion. Als Beleg dafür wird ihm vorgehalten, dass er sich mit seinen Informationen ins Ausland abgesetzt hat und ausgerechnet bei solchen Ländern um Asyl nachgefragt hat, die sich bisher erfolgreich gegen die US-Hegemonialansprüche gewehrt haben.

Nicht erwähnt wird in den US-Medien jedoch die Tatsache, dass Obama in seiner bisherigen Amtszeit mehr Whistleblower gnadenlos juristisch verfolgt und entweder ins Gefängnis gebracht oder in den materiellen Ruin getrieben hat als alle US-Präsidenten vor ihm zusammengenommen. Dies wiederum ist der Obama-Administration nur unter Umgehung geltender Gesetze zum Schutz von Whistleblowern gelungen. Diese waren vom Kongress zu einer Zeit verabschiedet worden, als man noch der altmodischen Vorstellung anhing, dass Regierungsbeamte und Angestellte ermuntert werden sollten, Gesetzesverstöße ihrer Behörden ohne Furcht vor negativen Konsequenzen für Karriere und Job an die Öffentlichkeit zu bringen.

Unter dem aktuellen Polizei- und Spitzelregime Obamas hätte Snowden jedoch keine Chance gehabt. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass er wegen der großen Brisanz seines Materials als »feindlicher Kämpfer« abgestempelt worden und erst einmal spurlos - ohne Recht auf Anwalt oder ein Gerichtsverfahren - in einem der Guantanamo ähnlichen US-Geheimgefängnissen »verschwunden« wäre.

Aber worin liegt nun die eigentliche Brisanz der Snowden-Informationen? Warum steckt das Obama-Regime wegen der NSA-Spionageaktivitäten sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch in der Krise, sogar mit den engsten NATO-Verbündeten und der EU? So neu sind die Informationen schließlich nicht, dass die NSA seit Jahrzehnten illegal US-Bürger ebenso umfassend abhört wie Regierungsmitglieder, Geschäftsleute und andere Bürger verbündeter Staaten.

Ende letzten Jahres z. B. veröffentlichte der Major des Nachrichtendienstes der US-Armee Dave Owen eine Studie im »Army Intelligence Journal«, die daran erinnerte, dass bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die NSA damit begonnen hatte, »absichtlich und gezielt« illegal »die private Kommunikation« von US-Bürgern abzuhören, bzw. mitzulesen. Dazu wurden nach und nach drei Programme ins Leben gerufen: das »Kleeblatt Projekt«, das von 1945 bis 1975 Telegramme sammelte; das Projekt »Minarett« (1960 bis 1973), das bereits mit Schlüsselworten, Begriffen, Namen und Referenzen arbeitete, und das Projekt »Drug Watch Lists«, das sich von 1970 bis 1973 auf die Kommunikation von Einzelpersonen und Organisationen konzentrierte, die angeblich mit illegalem Drogenhandel in Verbindung standen. Tatsächlich aber war es auf jeden und alles, was verdächtigt wurde, links zu sein, angesetzt. Informationen zu diesen Programmen und ihren illegalen Aktivitäten wurden erst in den 1970er Jahren im Rahmen der Untersuchung durch den »Church-Ausschuss« im US-Senat bekannt und unterbunden, zumindest zeitweise.

Dass Washington die NSA und ihre technologischen Fähigkeiten ausnutzte um auch die engsten Verbündeten, oder besser die NATO-Vasallen auszuspionieren, wurde spätestens im Rahmen des Echelon-Skandals bekannt, der von einer speziell gegründeten Kommission des Europäischen Parlaments untersucht wurde. Als Reaktion auf die Empörung in Europa, die dem Echelon-Bericht des Europaparlaments folgte, schrieb James Woolsey, von 1993 bis 1995 Direktor der CIA, im »Wallstreet Journal«: »Ja, meine kontinentaleuropäischen Freunde, wir haben euch ausspioniert. Und es ist wahr, dass wir Computer nutzen, um die Daten mit Hilfe von Schlüsselwörtern zu sortieren. Aber haben Sie sich mal gefragt, warum wir das machen?« Woolseys Begründung: »Eure Produkte sind oft teurer und technisch weniger entwickelt als die Eurer amerikanischen Konkurrenten. Deshalb bestecht Ihr Eure Komplizen in den anderen Regierungen und die Bestechungsgelder könnt Ihr dann sogar noch steuerlich absetzen.«

Wer damals glaubte und heute noch glaubt, dass die NSA ihre elektronischen Spionageaktivitäten auf die Suche nach Korruption beschränkt und bei Geschäfts- oder Staatsgeheimnissen der Europäer dezent weghört, der glaubt auch an den Weihnachtsmann. Mit anderen Worten: Jeder in Europa, der es nicht aus politischen Gründen absichtlich ignorieren wollte und will, weiß spätestens seit damals, dass unsere großen amerikanischen Freunde uns nach Strich und Faden ausspionieren. Und dass diese Bespitzelung, einhergehend mit den rasanten technologischen Fortschritten in der Telekommunikation und Computerbranche, von Jahr zu Jahr umfassender wird. Allerdings war und ist es politisch inopportun, die USA auf Regierungsebene damit zu konfrontieren. Der Mangel an dokumentarischen Beweisen für die US-Spionageaktivitäten erleichterte den europäischen Politikern das Wegschauen. Es ist Snowdens großes Verdienst, dass er für die elektronische Bespitzelung der US-Bürger und Verbündeten im Ausland große Mengen nunmehr hieb- und stichfester Beweise geliefert hat, die auch von den glühendsten Atlantikern nicht länger ignoriert werden können. Das erklärt die scheinheilige Empörung vieler unserer Politiker, die in Snowden alles andere als einen Held sehen, dem Asyl gewährt werden sollte.

Von allen armseligen Reaktionen unserer Politiker auf den NSA-Skandal bleiben die lächerlichen Pirouetten des sozialdemokratischen Europaparlamentariers Martin Schulz bisher unübertroffen. In den Medien zeigte er sich höchst empört, wurde nicht müde zu betonen, wie »geschockt«, »ja, zutiefst geschockt« er sei. Aber auf die Frage, ob das Europäische Parlament nun Sanktionsmaßnahmen gegen Washington ins Auge fassen sollte, wiegelte Schulz ab. Die Amerikaner wüssten, »wie geschockt die Europäer« seien. Und Washington würde nun alles tun, auch ohne Androhung von EU-Reaktionen, um die Situation zu entschärfen, meint höchst unterwürfig der Präsident des Europäischen Parlaments.

Im Berliner Verlag Edition Ost erschien jüngst von Klaus Eichner und Karl Rehbaum »Deckname Topas. Der Spion Rainer Rupp in Selbstzeugnissen« (256 S., br., 14,95 €).

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