Die Dinge, die zu uns gehören
Zum Verhältnis von Eigentum und Identität
Kaum eine Problematik - oder, wenn man so will, kaum ein Diskurs darüber - ist derartig unterschwellig präsent wie die des Eigentums. Die Auseinandersetzungen um die neuste »Neiddebatte«, »Reichensteuer« oder ein ähnliches Makro- und Mikro-Thema sind Legion, offenbar, weil hier etwas Virulentes verhandelt wird. Was aber Besitz, Eigentum, Habe eigentlich ist, wo es beginnt und wo endet, ist erstaunlich selten in toto betrachtet worden. Die psychoanalytische Perspektive ist traditionell auf die Ableitung des Besitzes von den menschlichen Ausscheidungen gerichtet (wer sich dafür interessiert, dem sei das Buch »Der Midaskomplex« von Wolfgang Harsch empfohlen, siehe Randspalte). Der marxistische Diskurs konzentriert sich hingegen auf den Besitz an Produktionsmitteln und der soziologische auf die Verfügungsgewalt über etwas oder den Aspekt der Dinge als Tauschware. Aber auch der marktwirtschaftlich eingespannte Slogan vom verpflichtenden Charakter des Eigentums gehört hierher.
Mir scheint jeder dieser Ansätze seine Berechtigung zu haben, und doch keiner diesem überkomplexen Problem so richtig Herr zu werden. Der kritische Punkt ist die Verwobenheit unseres Eigentums mit unserem Selbstbild, unserer Identität. Erich Fromms halbwegs populäres Buch »Haben oder Sein« stellt hier daher wohl die falsche Frage. Zu den Dingen, die wir »besitzen«, gehören neben unserem materiellen Eigentum auch allerlei Eigenschaften und Eigenarten; und die Grenzen fließen fortwährend.
Der »Besitz von« bedeutet letztendlich erst einmal die »Zuordnung zu«. Die juristische Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz trägt daher nicht allzu weit, und der »Herrschaftsaspekt« der Verfügungsgewalt eignet dem Besitz in höchst unterschiedlichem Maß. Das Internet beispielsweise hat Entwicklungen in Gang gesetzt, die weder juristisch noch sonstwie abzusehen sind. Wem gehört das eigentlich? Wer verfügt darüber? Und was hat »mein Avatar« in Forum XY damit zu tun? Das hier mehr Fragen als Antworten entstehen, führt zum Kern der Sache. Eigentum ist genau wie eine Eigenschaft etwas, das uns nicht zuletzt von anderen zugesprochen wird. Gesetze sind soziale Verabredungen, aber beileibe nicht die einzigen Reglementierungen von Zugehörigkeit.
Schon die Bibel - deren Symbolik noch immer ein Reservoir grundlegender Erkenntnis darstellt - beschreibt, wie die Aneignung der Welt damit beginnt, dass wir den Dingen Namen geben und sie so in unsere Eigen-Sphäre einordnen. Unsere Eigennamen wiederum bestimmen unsere Identität maßgeblich mit, obwohl oder eben gerade weil sie uns zumeist von Anderen gegeben wurden. Dass ein Großteil der Nachnamen auf Berufsbezeichnungen und soziale Rollen zurückgeht, ist ein weiterer Aspekt desselben Problems. Auch Wissen, sei es eher abstrakt oder funktional, hat nicht nur sprachlich dingliche Aspekte. Dass längst juristisch über Patente und Namensrechte gestritten wird, mag die Dimension des Eigentumsbegriffs veranschaulichen. Aber was uns so alles eignet, lässt sich nur schwer bestimmen.
Nun mag man mit Bertolt Brecht einwenden, dass das Fressen immer noch vor der Moral käme, oder mit Abraham Maslow Bedürfnishierarchien errichten, die zumindest dem Materiell-Organischen den Vorrang vor allem anderen einräumen. Es bestreitet dann auch wohl niemand, dass wir aus Materie bestehen und den biologischen Zwängen des Stoffwechsels unterliegen. Schon Qualität und Quantität unserer Nahrung aber werden wieder nicht nur von unseren materiellen Möglichkeiten, sondern auch von individuellen und kollektiv-kulturellen Vorlieben und Gebräuchen bestimmt, sozusagen als »du bist, was du isst«. Denn auch wo man sich in puncto Eigentum auf materielle Dinge konzentriert, stößt man tiefer hinab, als man gemeinhin denken mag. Ist etwa unser Körper unser Eigentum - oder gar das von jemand anderem? Verschiedenste Prothesen wie künstliche Gebisse, Schrauben in Gelenken, Herzschrittmacher oder gar Spendernieren verwischen die Unterscheidung zwischen »eigen« und »fremd« auf das Gründlichste. Dass etwa der »Organhandel« eine deutliche finanzielle Dimension hat, ist leidlich bekannt. Weniger präsent ist wohl der Handel mit einem anderen »Naturprodukt«: dem menschlichen Haar. Dabei war Frauenhaar schon vor zwei Jahrtausenden eines der wenigen Güter, das die Römer aus Germanien importierten; heutzutage umspannt der Handel mit menschlichem Haar die ganze Welt.
Und wo gerade von den Germanen, also den »Speer-Leuten«, die Rede ist: »Accessoires« von der Waffe über die Kleidung bis hin zur Handtasche und neuerdings dem iPhone sind zu allen Zeiten Werkzeuge und Statussymbole zugleich gewesen. Sie identifizieren uns als Teil verschiedenster Gruppen und Subgruppen und sind somit Anzeiger des kollektiven Teils unserer Identität. Dieser wird etwa als Staatsbürgerschaft in Ausweisen und Urkunden festgehalten und von Fahnen und Medaillen repräsentiert. Außerdem umfasst diese Kollektividentität einen weiten, schwer einzugrenzenden Kanon von Wert- und Kulturvorstellungen, der wiederum in materiellen Medien wie Büchern (und Zeitungen) festgehalten ist. Besitzen wir Goethe? Oder den Titel eines Fußballweltmeisters? Oder, elementarer: Besitzen wir die Kenntnisse unserer Muttersprache? Oder, noch elementarer: Besitzen wir eine Mutter?
Hier kristallisiert sich denn doch endlich so etwas wie eine Antwort heraus: Es geht um die Beziehungen, die wir unterhalten. So wie der US-amerikanische Psychologe Robert Mearns Yerkes provokant formulierte, ein Schimpanse sei gar kein Schimpanse, lässt sich auch der Mensch nur als soziales Wesen in seinen Beziehungen zu Anderen verstehen. Unsere gesamte psychische Organisation ist nicht zuletzt auf Beziehungserfahrungen gegründet und jede unserer Interaktionen mit der Umwelt hat zwangsläufig einen Beziehungsaspekt. Oder, mit Paul Watzlawick gesagt: Wir können nicht nicht kommunizieren. Wenn wir also sowohl Individuen bzw. »Privatpersonen« als auch Mitglieder eines Kollektivs sind und auch unser Besitz in dieses Geflecht mit einbezogen ist, sollen hier noch zwei weitere Fragen gestellt werden: Wie prägt das Eigentum die Beziehungsgestaltung des Einzelnen? Und wie ist es um das Verhältnis zwischen Privat- und Kollektiveigentum bestellt?
Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass Beziehungen immer in beide Richtungen funktionieren. Der »verpflichtende Charakter des Eigentums« heißt dann salopp: Was wir besitzen, besitzt auch uns. Ein Extrembeispiel liefert die Suchtforschung. Hier spielt neben der biologisch-stofflichen Komponente auch der Beziehungsaspekt eine Rolle, wobei die Beziehung zum Rauschmittel nach und nach die Beziehung zu den Menschen substituiert. Die Hinwendung zum einen bedeutet die Abwendung vom anderen; zwischenmenschliches Glück wird durch den (kurzen) Rausch ersetzt, der immer wieder erneuert werden muss. Dieser Mechanismus funktioniert auch bei »nichtstoffgebundenen Süchten« wie der Spielsucht, wobei hier kein Ding, sondern eine (lustvolle) Tätigkeit das Interesse und die psychische Aktivität absorbiert. Wie aus der Beziehung zu einem Menschen eine Obsession werden kann, kann aus Besitz Besessenheit werden. Interessanterweise wird aber selbst die obsessivste »Raffgier« hierzulande nicht als psychische Störung diagnostiziert.
Nun soll die Beziehung zum Eigentum keineswegs in toto pathologisiert werden, denn wie bei allen Dingen macht die Dosis das Gift. Sein Haus instand zu halten und sein Werkzeug zu pflegen, zeugt gewiss eher von einer liebevollen Fürsorge denn von einer Obsession. (Grenzwertig scheint dagegen manchmal »des Deutschen liebstes Kind«, also sein Auto.) Überhaupt behandeln wir Dinge, die uns bzw. die zu uns gehören, mit größerer Sorgfalt. Die Beziehungspflege zum Eigentum und ihre Analogie zur menschlichen Beziehungsgestaltung ist einer der oft theoretisch vernachlässigten Aspekte. Das Privateigentum wird entweder ganz verdammt oder schier vergöttert, was beides unangemessen ist.
Der Tendenz zur Vergötterung scheinen all jene aufzusitzen, die in der Privatisierung allen Eigentums ein Allheilmittel sehen. Das Argument, dass der private Eigentümer eine innigere Beziehung zu seinem Besitz habe, scheint im Wesentlichen sogar zutreffend. Dafür geraten zwei andere Sachverhalte aus dem Blick. Denn ist erstens der Vorrang der Beziehung zu den Dingen statt zu den Mitmenschen nicht geradezu Gift für den vielgepriesenen sozialen Frieden? Und wenn Eigentum, unter anderem, Identität stiftet, was bedeutet dann zweitens der Verlust des Gemeineigentums - und etwas anderes ist eine Privatisierung ja nicht - für den kollektiven Teil unserer Identität?
In der Tat ist getreu dem Motto, dass Gewinne privatisiert, Verluste aber verstaatlicht werden, eine Schieflage unübersehbar. Während fortlaufend suggeriert wird, dass es der deutschen Industrie - also Unternehmen in privater Hand mit Anteilseignern aus aller Welt - ganz prächtig gehe und mithin Deutschland auch, hat der deutsche Staat 2,1 Billionen Euro Schulden (Stand 01.7.2013) - im Wesentlichen also kollektive Verpflichtungen, an deren Zinsen sich wiederum Privatpersonen bereichern. Noch gravierender aber scheint, dass gleichzeitig Ausgrenzungsprozesse immer mehr an Geschwindigkeit gewinnen, die entlang der Kategorien von finanziellen Einkommen und Besitz operieren. Erinnert sei hier beispielsweise an die Hartz-IV-Kampagnen und die Verdrängung einkommensschwacher Menschen aus den Zentren großer Städte wie Berlin, also die sogenannte Segregation.
Eine Hinwendung zu den Dingen bedeutet eine Abwendung von den Menschen. Es sind aber die (solidarischen) Beziehungen zu unseren Mitmenschen, die die Bindungen unserer kollektiven Identität knüpfen, und nicht die Pflege des privaten Eigentums. Von daher müssen wir uns immer wieder neu entscheiden. Nicht, ob wir etwas haben oder etwas sein wollen, sondern wer wir sein wollen - und zwar wir alle.
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